Die Spitzen brechen

HfH-Round-Table

Für viele Schulen ist die Inklusion eine Zerreissprobe. Kinder und Jugendliche mit herausforderndem Verhalten werden dabei als eine besondere Belastung wahrgenommen. Der Ruf nach Kleinklassen wird schweizweit wieder lauter. Was bedeutet das für die inklusive Schule? Das wurde am HfH-Round-Table vom 5. April 2023 diskutiert.

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Barbara Fäh Titel Prof. Dr.

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Rektorin

Das nachfolgende Video gibt einen Einblick in die angeregte Diskussion mit den geladenen Gästen und die jeweils wichtigsten Statements.

Der Zusammenschnitt der eineinhalbstündigen Diskussion enthält zentrale Statements der Gesprächsgäste.

Zahlen stabil. Alle paar Jahre flammt die Diskussion um Kleinklassen als mögliche Massnahme für Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten auf – jeweils in unterschiedlichen Kantonen. In den Medien wird die Debatte dann teils heftig und ideologisch geführt – verebbt aber jeweils rasch wieder. In der Praxis jedoch zeigt sich diese Wellenbewegung kaum, dort haben Kleinklassen einen stabilen Platz, spielen aber zahlenmässig eine untergeordnete Rolle. Die nachfolgende Grafik zeigt das exemplarisch für den Kanton Aargau und Zürich. Gerade mal sechs Gemeinden sind es im Kanton Zürich, welche noch Kleinklassen führen – für total 63 Schüler:innen. Es sind grosse Gemeinden, meist in der städtischen Agglomeration. Im Kanton Aargau ist der Prozentanteil an Kindern und Jugendlichen in Kleinklassen deutlich höher als im Kanton Zürich. Der Grund dafür: Im Aargau entscheidet sich eine Gemeinde in der Regel entweder für das Modell der Integrierten Förderung (IF) oder für das Kleinklassenmodell – und führt dann mehrere Kleinklassen durch alle Klassenstufen hindurch. «Ob eine Gemeinde auf IF oder auf Kleinklassen setzt, ist im Kanton Aargau historisch gewachsen», sagt Simona Brizzi, Aargauer Grossrätin. Aber auch hier: Es handelt sich insgesamt um eine Minderheit. Von den total 210 Aargauer Gemeinden führen lediglich 14 Gemeinden Kleinklassen. «In diesem Bereich ist seit Jahren kaum Bewegung drin», so Brizzi.

Hier sehen Sie die Anzahl Kinder in Kleinklassen in den Kantonen Aargau und Zürich aus den Jahren 2015 bis 2022.
Anzahl Kinder in Kleinklassen in den Kantonen Aargau und Zürich.

Kinder in Kleinklassen in den Kantonen Aargau und Zürich

Die Grafik bildet die Zahlen der Kinder in Kleinklassen in den Kantonen Aargau und Zürich ab. Die Auswertung umfasst die Zeitspanne von 2015 bis 2022.

  • Im Kanton Aargau waren 2015 insgesamt 515 Kinder in Kleinklassen. Das sind 0.71%. Im Kanton Zürich hingegen wurden im gleichen Jahr 165 Kinder in Kleinklassen unterrichtet, das heisst 0.12%.
  • Die Zahlen blieben im Kanton Aargau auf diesem (hohen) Niveau relativ unverändert, während man im Kanton Zürich eine Abnahme feststellen kann. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 waren im Aargau 554 Kinder in Kleinklassen (0.70%), hingegen im Kanton Zürich nur noch 74 Kinder (0.05%).

Hohe Kosten, aber begrenzter Nutzen. Wieso fristen Kleinklassen in den meisten Kantonen trotz lautem Rufen eher ein Nischendasein? Ein Grund dafür liegt in der Art, wie die Schulen heute ihre Ressourcen zugewiesen bekommen, nämlich pauschal in Abhängigkeit von ihrer Gesamtschülerzahl. Früher war das anders. Da konnte eine Zürcher Gemeinde beim Kanton bei ausgewiesenem Bedarf immer wieder neue Sonderklassen bewilligen lassen und erhielt dafür auch zusätzliche Ressourcen. Vor der Einführung des neuen Volksschulgesetztes waren denn auch rund zehnmal mehr Lernende in Sonderklassen. Ob diese bedarfsorientierte Ressourcierung heute politisch noch mehrheitsfähig wäre, ist sehr fraglich. Aktuell müssen die Gemeinden mit ihren Pauschalressourcen sowohl die Regelklassen als auch einen Teil ihrer sonderpädagogischen Angebote versorgen. Kleinklassen sind zwar weiterhin zulässig, nehmen aber Ressourcen in Anspruch, die dann andernorts fehlen. Heisst: Es gibt grössere Klassen und/oder weniger Integrative Förderung (IF) in den Regelklassen. Das zeigt die untenstehende Grafik. Zudem: Eine Kleinklasse hat Platz für zwölf bis vierzehn Kinder. Das bedeutet, dass eine Lehrperson im Schnitt pro Klassenzug höchstens ein Kind platzieren könnte. Die entlastende Wirkung ist also recht begrenzt. Das Fazit für die meisten Schulen: Im heutigen System sind die Kosten für Kleinklassen höher als der erwartete Nutzen.

Hier sieht man eine Waage mit den Kosten und Nutzen von Kleinklassen.
Kosten und Nutzen von Kleinklassen.

Kosten und Nutzen von Kleinklassen

Die Grafik zeigt eine Waagschale. Auf der einen Seite sind die Kleinklassen abgebildet und mit einem Preisschild versehen. Auf der anderen Seite ist das integrative Förderangebot (IF) dargestellt, wobei beispielsweise im Kanton Zürich ein Mindestangebot vorgeschrieben ist. Grössere Klassen und/oder eine Reduktion der integrativen Förderangebote halten sich die Waagschale mit der Anzahl Kleinklassen.

Die begrenzte Entlastung der Lehrpersonen soll verdeutlicht werden: In einer mittelgrossen Gemeinde könnte eine Lehrperson alle zwei bis drei Jahre ein Kind in eine Kleinklasse abgeben.

Pro und Contra. Kinder mit herausforderndem Verhalten bringen viele Schulen an die Grenze ihrer Tragfähigkeit. Befürworter von Kleinklassen haben vor allem die unmittelbare Entlastung der Regelklassen im Fokus – als Effekt einer Separation von auffälligen Kindern und Jugendlichen. «Klassenlehrpersonen, aber auch normalbegabte Schüler:innen sollen nicht unter schwierigen Kindern leiden», fordert Yasmine Bourgeois-Strasser, Gemeinderätin der Stadt Zürich. Ihr geht es nicht nur um Schüler:innen mit Verhaltensschwierigkeiten, sondern auch um solche mit Lernproblemen: «Diese können in einem geschützten Rahmen viel besser gefördert werden.» Doch die empirische Befundlage relativiert diese Aussage, wie Elisabeth Moser Opitz von der Universität Zürich ausführt: In inklusiven Settings würden Kinder mit Lernproblemen mehr Fortschritte machen als in Kleinklassen. Meist argumentieren Kritiker von Kleinklassen mit der langfristigen Perspektive: Diese Kinder hätten später schlechtere Berufschancen, und ihre Teilhabe in der Gesellschaft würde durch das Kleinklassen-Etikett massiv erschwert. «Gerade im Verhaltensbereich sind Kleinklassen keine ideale Lösung», ist Elisabeth Moser Opitz überzeugt. «Dort schaukeln sich die belasteten Kinder gegenseitig hoch und die Gruppe ist nur noch schwer zu führen», so Moser Opitz.

Keine Strafversetzung. Gesucht ist also eine Lösung, welche das Regelsystem kurzfristig entlastet, jedoch ohne die Kinder und Jugendlichen langfristig zu belasten. Und hier kommen Angebote der temporären Separation ins Spiel. Aktuell werden insbesondere so genannte «Schulinseln» diskutiert, «erweiterte Lernräume», wie sie von Seiten Bildungsverwaltung auch genannt werden. Ein separater Raum, in welchem Schüler:innen in Ruhe arbeiten können und von pädagogischen und heilpädagogischen Fachpersonen unterstützt werden. Zentral ist, dass die Rahmenbedingungen geklärt sind: Wie kommen Kinder dorthin, was genau wird dort gemacht, und wie läuft die Integration zurück in die Regelklasse? «Wichtig für die positive Wirkung von solchen Massnahmen ist, dass sich Kinder nicht strafversetzt fühlen, sondern mitentscheiden können, ob und wie lange sie auf der Schulinsel arbeiten», betont ZLV-Präsident Christian Hugi. Und parallel dazu müsse in den Regelklassen am sozial-emotionalen Lernen gearbeitet werden, meint Dennis Hövel, Institutsleiter an der HfH: «Eine Schule muss ihre Kompetenzen im Umgang mit herausfordernden Kindern und Jugendlichen kontinuierlich verbessern. Das läuft nicht nebenher, sondern muss von Team und Schulleitung bewusst gepflegt werden», ist Hövel überzeugt.

Hier sieht man den Kreislauf einer temporären Separation mit den drei Kernphasen Austritt, Förderung und Eintritt.
Massnahmen der temporären Separation: Schulinsel und Time-Out.

Massnahmen der temporären Separation

Die Grafik bildet zwei mögliche Angebote ab, die der temporären Separation zugeordnet werden können.

  • Die Schulinsel ist eine kurzfristige Massnahme.
  • Das Time-Out hingegen dauert länger.

Der Austritt aus der Regelklasse soll eine individuelle Förderung des Schulkindes ermöglichen und seinen Wiederentritt in die Regelklasse sicherstellen. Das Ziel ist es, das System kurzfristig zu entlasten ohne das Kind langfristig zu belasten.

Abgebildet sind Schlagworte wie «sozial-emotionales Lernen», «Leidensdruck» und «Entlastung», aber auch «Know-how», «Tragfähigkeit» sowie «multiprofessionell», welche eine wichtige Rolle spielen.

Turbulenzen bewältigen. Die Diskussion zeigt aber: Was in Bezug auf leichtere Verhaltensprobleme eine Lösung sein kann, funktioniert bei mittleren Auffälligkeiten wie ADHS, Aggression oder milden Formen von ASS nur begrenzt. «Belastungsspitzen können durchaus gebrochen werden, wenn das Kind für einen halben Vormittag weg ist von seiner Stammklasse», berichtet Marcus Reichlin, Leiter der Schulinsel Feldmeilen, «aber für eine längere Verweildauer ist die Schulinsel weniger geeignet.» Barbara Fäh, Rektorin der HfH und Gastgeberin des HfH-Round-Tables ist zudem überzeugt, dass das heilpädagogische Know-how gestärkt werden muss: «Temporäre Separation allein kann nicht die Lösung sein. Wir müssen vieles in der Regelklasse selber lösen. Lehrpersonen sind wie Pilot:innen: Sie müssen auch bei Turbulenzen kompetent fliegen können!» Und deshalb führe kein Weg an guter Aus- und Weiterbildung vorbei. «Wir müssen uns lebenslang weiterbilden, um die aktuellen und künftigen Herausforderungen der Gesellschaft meistern zu können. Und das geht nur, wenn wir zusammenarbeiten – wir alle sind gefragt!»

Die Veranstaltung war ausgebucht. Zahlreiche Gäste aus dem Publikum meldeten sich zu Wort.

Der HfH-Round-Table wurde moderiert von der HfH-Wissenschaftskommunikation: Steff Aellig...

...und Dominik Gyseler.

Der HfH-Round-Table wurde live übertragen. Über 300 Personen verfolgten die Diskussion online.

Christoph Suter, Leiter des Instituts für Professionalisierung und Systementwicklung, brachte Fragen aus dem Online-Chat in die Diskussion.

Als Gesprächsgäste waren Yasmine Bourgeois-Strasser (Gemeinderätin Stadt Zürich) und Simona Brizzi (Grossrätin Kanton Aargau) eingeladen.

Auch Marcus Reichlin (Leiter Schulinsel Feldmeilen), Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz (UZH) und Christian Hugi (Primarlehrer und Präsident ZLV) nahmen am HfH-Round-Table «Zurück zur Kleinklasse?» teil.

Dennis Hövel, Leiter des Instituts für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung, war von Seiten der HfH dabei.

Beim anschliessenden Apéro konnten die Teilnehmenden gemeinsam anstossen – und brennende Fragen weiter diskutieren.

Rektorin Barbara Fäh im Gespräch mit Insitutsleiter Christoph Suter.

Autoren: Dominik Gyseler, Dr., und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (April 2023)

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