«Inklusion ist ein gesellschaftliches Projekt»

Antrittsvorlesung

Die schulische Inklusion steht auf dem Prüfstand. Dabei wird aber die entscheidende Frage oft gar nicht gestellt: Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Davon handelt die Antrittsvorlesung von David Labhart.

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David Labhart Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für Systementwicklung und Inklusion

Fortschritt und Rückschritt. Kurzer Inklusions-Check im Herbst 2024. In der Schweiz besuchen über drei Prozent der Lernenden einen separativen Unterricht. Die Lehrpersonen klagen über Stress im Umgang mit Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen. Und Teile der Politik fordern lautstark die Rückkehr zu Kleinklassen. «Auf den ersten Blick könnte man meinen, die schulische Inklusion sei gescheitert», sagt denn auch David Labhart zu Beginn seiner Antrittsvorlesung. Er könne das sogar nachvollziehen, weil viele Leute das Bild einer kontinuierlichen Entwicklung hätten: Früher wurden Kinder mit einer schweren Behinderung noch gänzlich von der Bildung ausgeschlossen (Exklusion). Später wurden für sie spezielle, aber abgegrenzte Angebote geschaffen (Segregation). Nachher wurden Kinder mit und ohne Behinderung falls immer möglich gemeinsam unterrichtet (Integration). Und heute sollen alle Kinder und Jugendlichen mit einer Behinderung von Anfang an in einer Schule für Alle mitgedacht werden (Inklusion). Geht es nun wieder ein Feld zurück?

David Labhart im Gespräch mit Steff Aellig: «Inklusion ist ein langfristiger Prozess.»

Ent-hindern. Hier lohnt sich ein zweiter, genauer Blick. Als Professor für Systementwicklung und Inklusion ist David Labhart prädestiniert dafür. Und er lenkt den Blick weg von den reinen Zahlen. «Was oft vergessen geht: Die Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag», sagt er. Für ihn lautet die entscheidende Frage: Wie wollen wir zusammenleben? Als Gesellschaft, in welcher Vielfalt eine Tatsache ist, aber auch von vielen als grosse Herausforderung wahrgenommen wird? Sein Leitsatz: «Nicht be-hindern, sondern ent-hindern.» Was er damit meint: Wo Menschen bis heute behindert werden – in der Schule, beim Übergang ins Berufsleben, mit baulichen Hürden – muss man alles dafür tun, um sie wieder zu ent-hindern. Damit sie an der Gesellschaft teilhaben können. Daran bemisst sich für Labhart der Fortschritt. Damit dies gelingt, muss man die Akteure aber konsequent einbeziehen, Netzwerke bilden, auf Augenhöhe mit den Betroffenen diskutieren. Eigentlich müsste man ihn deshalb als «Professor für Akteurnetzwerkfortschritt und Enthinderung» bezeichnen, meint David Labhart mit einem Augenzwinkern. 

Praxis verändern. Über die inklusive Gesellschaft und die Schule zerbricht er sich seit Langem schon den Kopf, seine Doktorarbeit schrieb er über interdisziplinäre Teams in der integrativen Schule. Es bleibt aber nicht beim Nachdenken: So setzt sich David Labhart zum Beispiel tatkräftig dafür ein, dass der Zugang zur Hochschule ent-hindert wird. Das Aushängeschild ist das Projekt écolsiv am Institut Unterstrass in Zürich, in dem Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung für eine pädagogische Tätigkeit in der Schule befähigt und ausgebildet werden. Das ist Fortschritt.

Die Veranstaltung fand am 3. September 2024 an der HfH statt und wurde online übertragen. Prof. Dr. David Labhart ist Professor am Institut für Professionalisierung und Systementwicklung. 

Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (September 2024)