Teilhabe lernt man nur durch Teilhabe
Antrittsvorlesung
Es braucht zudem eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema aus pädagogischer Sicht. Welche Rolle dabei die Inklusion spielt, erläutert Kathrin Müller in ihrer Antrittsvorlesung.
Teilhabe? Na klar! «Teilhabe an Bildung finden erstmal alle top», sagt Kathrin Müller, Professorin für Inklusion und chancengerechtes Lernen an der HfH. «Gerade in der Pädagogik ist Teilhabe eher positiv konnotiert.» Während viele schon einen Haken an den Begriff machen, fängt für Kathrin Müller die Diskussion aber erst grad an. «Wenn man genauer hinschaut, verfällt Teilhabe zu einem diffusen Containerbegriff», benennt Müller das Problem. Sie macht dazu das Beispiel eines Mädchens, das im Unterricht in der Gruppenarbeit zum Thema Stromkreis so lange ignoriert oder gar zurückgewiesen wird, bis es sich komplett raushält und als Statistin nur noch das Stromkabel in Position hält, damit das Experiment durchgeführt werden kann. Mit Erfolg: Die Gruppe kann Ergebnisse präsentieren, hat die Lernziele erreicht, wird gelobt.
Teil-Habe, Teil-Gabe, Teil-Nahme. «Aber ist das Teilhabe?», stellt Müller die rhetorische Frage und beantwortet sie im selben Atemzug gleich selber: «Natürlich nicht aus einer pädagogischen Perspektive.» So leicht die Antwort fällt, so komplex ist die differenzierte Begründung. Denn dazu braucht es eine theoretische Auseinandersetzung mit Teilhabe aus pädagogischer Sicht. In der Antrittsvorlesung entfaltet sie Stück für Stück ihren Ansatz. Drei Puzzlestücke sollen herausgegriffen werden. Erstens: Teilhabe ist keine Einbahnstrasse. Vielmehr steht sie in einem «engen Zusammenhang zu einem übergeordneten Ganzen, das in der Pädagogik von Teil-Gebenden und Teil-Nehmenden verhandelt wird», so Müller. Zweitens: «Teilhabe lernen wir nur durch Teilhabe», betont Kathrin Müller, «und zwar ein Leben lang.» Doch gerade Kinder mit heilpädagogischem Förderbedarf ziehen in den Verhandlungen um Teil-Nahme und Teil-Gabe häufig den Kürzeren, weil sie sich einfach in einer ungünstigeren Verhandlungsdisposition befinden. Müller verarbeitet das in einen pädagogischen Anspruch, indem sie als dritten Punkt betont, dass sich Teilhabe immer wertgeleitet vollziehen soll: «Teilhabe an sich ist kein Wert, muss aber auf bestimmte Normen und Werte bezogen werden.»
Inklusion als Wert. Hier kommt die Inklusion ins Spiel. «Inklusion verleiht der Pädagogik eine Werthaltung», sagt die ehemalige Sonderschullehrerin und stellt die wertgeleitete Frage, die sich daraus ergibt: Wie können wir pädagogische Prozesse gleichberechtigt, gleichwertig und gleichwürdig machen? «Inklusion ist eine Aufforderung, Pädagogik anders zu machen», ist Kathrin Müller überzeugt. Im Video-Interview fasst sie diese Grundidee zusammen und erläutert, welche Projekte sie im Rahmen ihrer Professorinnenstelle anpacken möchte.
Die Veranstaltung fand am 18. Oktober 2022 an der HfH statt und wurde online übertragen. Prof. Dr. Kathrin Müller ist Professorin für Inklusion und chancengerechtes Lernen am Institut für Lernen unter erschwerten Bedingungen.
Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation