Es schlägt 14 beim dreizehnten
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Die 13. Ausgabe des Zürich Film Festivals (ZFF) war keine Unglückszahl für das Festival: mit 8.5% konnten sie den Publikumszuspruch weiter steigern. Und auch für das Thema der Behinderung gab es Grund zu feiern, denn vierzehn Filme porträtierten Personen mit Behinderung und dass dieses Mal auf besondere Art, nämlich weitgehend positiv und in publikumswirksamen Formaten.
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Selbst wenn es nur knapp ein Zehntel aller gezeigten Filme ausmacht, so waren die Filme mit Personen mit Behinderung dieses Jahr prominent platziert, nämlich in den Galapremieren, die vom Publikum den grössten Zuspruch erfahren. Darüber hinaus übernahmen in den meisten Fällen bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen die Rollen von Personen mit Behinderung, was die Breitenwirkung enorm steigert.
Oscarverdächtig ist die Rolle, die Jake Gyllendaal in Stronger (David Gordon Green, USA 2017) spielt. Er repräsentiert Jeff Baumann, dem beim Anschlag auf den Boston-Marathon beide Beine weggerissen wurden. Man spürt richtig das Leiden, dass Jeff durchmacht, während er gleichzeitig als Held gefeiert wird, eine seltene Erfahrung für Personen mit Behinderung. Jener Film ist überschwänglich, manchmal mitreissend inszeniert, aber zeigt zudem die schwierige Anpassung, wenn jemand mitten aus dem Leben eine Behinderung erfährt. Ähnlich trifft es Robin Cavendish (Andrew Garfield) in Breathe (Anfy Serkis, Grossbritannien/USA 2017). Bei einem Tennisspiel sinkt er plötzlich nieder und wird mit Polio diagnostiziert. In diesem Film geht es hauptsächlich um die getätigten Erfindungen, die Robin das Leben erleichtern, wie ein Rollstuhl mit eingebautem Respirator. Dramatischen Situationen wird schnell der Wind aus den Segeln genommen. Robin nimmt die neue Situation gegenüber derjenigen von Baumann ziemlich gelassen hin, was daran liegen kann, dass Robin aus besseren sozialen Verhältnissen kommt und der Film in früheren Zeiten spielt. Dass Robin zu einem Kämpfer für die Erkrankten mit Polio wird, wird nur am Rande behandelt, vielmehr geht es um die Beziehung von Robin mit seiner sich aufopfernden Frau Diana.
Dann schon eher Simpel (Markus Goller, Deutschland 2017): in diesem Film soll der kognitiv beeinträchtigte Barnabas (David Kross) nach dem Tod der Mutter in ein Heim, wie es sein schon lange abwesender und ihn ablehnender Vater angeordnet hat. Barnabas hat eine sehr enge, innige Beziehung zu seinem Bruder Ben, der ihn genauso liebt wie dass die Verantwortung für Barnabas wie ein Klotz am Bein für ein selbstbestimmtes Leben von Ben ist. Beide machen sich auf nach Hamburg, um dem Heim zu entfliehen und den Vater zu finden. Auf dem Weg dorthin erleben sie viele wertvolle, da unterstützende Erfahrungen, nebst spannenden Begegnungen. Kross spielt mit den Klischees einer kognitiv beeinträchtigten Person, aber nimmt seine Rolle wirklich ernst. Dazu passt, dass es eine Auseinandersetzung darüber gibt, ob behinderte Menschen besser daheim oder in einem Heim leben sollen.
In All I see is you (Marc Forster, USA 2016) erlangt die seit einem Autounfall blinde Gina (Blake Lively) relativ zu Beginn des Filmes durch eine Operation auf einem Auge ihre Sehkraft wieder. Dadurch sieht sie nicht nur die physische Welt um sie herum, sondern erkennt ebenfalls das Spiel, welches ihr Ehemann James mit ihr spielte. Letztlich ein konventionelles Hollywoodprodukt, geht es auch hier um die Anpassungen, die die Heilung von einer Behinderung mit sich bringt, die nicht nur positiv zu sein brauchen, damit der Film auch als Thriller funktioniert. Ein weit besserer und sogar guter Film über Behinderung war Il Colore nascosto delle cose (Silvio Soldini, Italien/Schweiz 2017). Hier verliebt sich der erfolgreiche Werbefachmann und Frauenheld Teo in die blinde, selbstbewusste und sinnliche Emma (Valeria Golino). Emma wird die jüngere Nadia gegenübergestellt, die den Blindenstock ablehnt und lieber von der Mutter gebracht werden will. Dagegen verfügt Emma über erstaunliche Fähigkeiten und es ist zu begrüssen, dass sie Teo in vielem überlegen ist, ihm Ideen liefert. Dieser Film fordert dadurch uns Sehende heraus, wie wir Zusammenhänge wahrnehmen.
Das kann man genauso sagen von The Killing of a Sacred Deer (Giorgos Lanthimos, Irland/Großbritannien 2017), einem perfiden Thriller. Ein Junge, dessen Vater möglicherweise durch den Fehler eines bekannten Chirurgen gestorben ist, zwingt den verheirateten Chirurgen und Vater zweier Kinder, seine Mutter zu lieben. Andernfalls lähmt er des Chirurgen Familie, bis diese sterben. Tatsächlich können beide Kinder ihre Gliedmasse nicht mehr bewegen und die Ärzte finden keine organische Ursache. Die Kinder nehmen ihr Schicksal stoisch hin und ihre Behinderung bringt die latenten familiären Spannungen zum Ausbruch. Behinderung wird hier medizinisch behandelt, aber genauso zeigt sich die Systembedingheit von Behinderung.
Dies lässt sich ebenfalls in gewissem Sinn von You were never really here (Lynne Ramsay, Grossbritannien/USA/Frankreich, 2017) sagen: der ehemalige Soldat und FBI-Agent hat ein grosses, entstellendes Geschwür auf dem Rücken nebst zahlreichen Narben. Freilich wird dies einzig visuell übermittelt, und kaum in dessen Auswirkungen behandelt. In Blade Runner 2049 (Dennis Villeneuve, USA/Grossbritannien/Kanada 2017) hat der Chef einer grossen Roboterfabrik künstliche Augen und eine nicht nur visuell eingeschränkte Sicht, die sich auf seine beschränkte Sicht der Menschheit auswirkt. Augen und deren Funktionen spielen eine wichtige Rolle in dem Film: können wir unseren Augen überhaupt trauen?
Die Wettbewerbe waren dieses Jahr weniger mit der Darstellung von Behinderung befasst. Im deutschsprachigen Wettbewerb lief Tiere (Greg Zglinski, Schweiz/Österreich/Polen 2017). Bei diesem Film ist besonders zu erwähnen, dass es beim diesjährigen Zürich Film Festival als Premiere eine Vorstellung mit Audiodeskription und Untertitelung gab, dankenswerterweise durch Regarde-neuf organisiert. Ansonsten gab es ein Verwirrspiel um einen Arzt, dem ein Finger fehlt oder auch nicht. Dies wird speziell thematisiert. Lässt sich eine Behinderung wegdenken oder könnte eine konstruktivistische Sichtweise dahinterstecken? Konkreter ist Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Martin McDonagh, Großbritannien/USA 2017), wo eine Mutter sauer und wütend ist, dass die Polizei nichts zur Auffindung der Mörder ihrer Tochter tut. Sie macht etliche ungewöhnliche und auch illegale Aktionen, bei denen ihr der kleinwüchsige, offensive James (Peter Dinklage, der wirklich kleinwüchsig ist) hilft, aber dafür geliebt werden will. Als das sich nicht so realisieren lässt, fühlt James sich ausgenutzt.
Die Filmreihe «neue Weltsicht» befasste sich mit Ungarn, wobei vier Filme Behinderung beinhalteten. Allen voran der Berlinale-Gewinner Testről és lélekről (Ildikó Enyedi, Ungarn 2017). Endre ist Finanzchef eines Schlachthofes. Er hat einen gelähmten Arm, wobei zu sehen ist, dass für Endre viele Alltagshandlungen umständlich durchzuführen sind. Neu in seinem Betrieb ist die engelhaft aussehende Mária (Alexandra Borbély), die in vielen Publikationen als autistisch beschrieben ist. Das würde ich nicht unbedingt so sehen. Vielmehr ist Maria sehr schüchtern und darüber hinaus sehr einsam. Was beiden Personen gemeinsam ist, dass sie exakt das gleiche träumen und darüber zueinander finden. Behinderung steht hier weniger im Mittelpunkt, obwohl diese in etlichen Szenen offensichtlich ist. Es ist dennoch ein zauberhafter und bezaubernder Film.
Bezaubernd ist ebenso der vierjährige, traumatisierte Kristian (Ede Kovacs). Da er im Heim aufwächst, bleibt er stumm in A Szerdai Gyerek (Lili Horvath, Ungarn/Deutschland 2015). Erst am Ende des Filmes und ein Jahr älter, als er endlich bei seiner Mutter bleiben kann, sagt er seine ersten Worte. Bei jenem Buben, den man fast als einzige Person im Film schnell ins Herz schliesst, zeigt sich, wie wichtig Zuneigung ist, um eine Behinderung zu heilen. Ein Kind ganz anderer Natur ist in Ernelláék Farkaséknál (Szabolcs Hajdu, Ungarn 2016) der 5-jährige hyperaktive Bruno (Zsigmond Hajdu). Bruno schreit und lärmt, tobt herum, nicht zuletzt, weil er um Anerkennung und Aufmerksamkeit kämpft, denn seine Eltern haben einen ziemlichen Konflikt, bei dem es auch um zu viel oder zu wenig elterliche Zuwendung geht. Als dies geklärt ist, kann sich Bruno seine Ideen in ein Theaterprojekt stecken.
Tiszta szívvel (Atilla Till, Ungarn 2016) ist von allen erwähnten Filmen die offensichtlichste Komödie, aber eine mit Laienschauspielern, die wirklich behindert sind. Der Paraplegiker Zolika (Zoltán Fenyvesi) mit stark verkrümmten Rücken und der Spastiker Barba Papa mit stark schmerzendem Rücken (Ádám Fekete) leben in einem Heim für Menschen mit Behinderung. Beide, die Comichefte herstellen, lassen sich mit dem Auftragskiller Janos Rupaszov (Szabolcs Thuróczy) ein, wobei es viele lustige Szenen gibt und manchmal der schwarze Humor bemüht wird, der durchaus grenzgängig sein kann. Dennoch sehen wir, wie schwierig das Leben mit einer Behinderung ist. Der Film macht Behinderung nachvollziehbarer, und überzeugt dadurch, dass sie sich mitunter nicht selbst ernst nimmt.
Dass Behinderung ein sehr wichtiges Thema ist, ist der Leitung des ZFF voll bewusst und wird auch voll in ihre Planung einbezogen, wie mein Interview mit dem Leiter des Festivals, Herrn Karl Spoerri, kundtut. Karl Spoerri sagte zum Prinzip der Filmauswahl: «Wir suchen intelligente Filme mit gesellschaftlicher Relevanz. Behinderung ist ein wichtiges Thema für viele Regisseure und darum kein Zufall, dass es jedes Jahr dazu immer viele spannende Filme gibt.». Auch beim Publikum kam das gut an: «Die Filme waren extrem gut besucht und wir haben viel positives Feedback erhalten.». Wie die zukünftige Planung aussieht, ist nach Spoerri allerdings schwer vorhersehbar: «Filme mit dem Thema Behinderung haben am ZFF ihren festen Platz. Für uns steht letztlich aber immer die Qualität der Filme im Mittelpunkt und darum ist es schwer voraus zu sagen ob wir zukünftig noch mehr Filme mit dem Thema Behinderung im Programm haben.»
Zumindest ist Behinderung eine feste Grösse bei dem ZFF. Dieses Jahr war speziell, dass bei vielen Filmen die Anpassung an die Behinderung im Mittelpunkt stand. Diese Filme zeigen, dass uns eine Behinderung immer und unvermittelt treffen kann. Aber auch die umgekehrte Botschaft wurde gegeben: in zwei Fällen wurde Behinderung geheilt, einmal durch moderne Technik, einmal durch mütterliche Nähe. Insgesamt traten Personen mit Behinderung selbstbewusster auf und wurden genauso besser dargestellt. Ins Schwarze hat dieses ZFF mit der Darstellung von Behinderung getroffen.
Autor: Achim Hättich, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Forschung und Entwicklung, HfH
HfHnews Dezember 2017
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