Diagnostik im Kontext von kognitiver Beeinträchtigung
Kategorie Institutsthema
Heilpädagogische Diagnostik bietet die Grundlage für das Erkennen und Initiieren von gezielten Förderprozessen. Im Kontext von kognitiver Beeinträchtigung bedarf es eines mehrschichtigen, multiperspektivischen und kontinuierlichen Diagnostikprozesses, um sich dem Verstehen des Gegenübers möglichst gut zu nähern.
Zentrale Fragen. Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen in allen Entwicklungsbereichen stellt die Heilpädagogik vor komplexe Herausforderungen:
- Wie kann die Lebenssituation, die Entwicklungs- und Lernsituation verstanden werden? Zum Kapitel Phänomenologische Diagnostik als Prozess
- Wie ergeben sich daraus bildungsrelevante Ziele? Zum Kapitel Phänomenologische Diagnostik und Bildungsrelevanz
Beobachtungen als Schlüssel. Standardisierte Testverfahren kommen bei der Einschätzung der Lern- und Entwicklungsvoraussetzung wenig zur Anwendung. Es zeigt sich, dass standardisierte Tests nicht in der Lage sind, die Gesamtsituation zu erfassen und adäquat abzubilden. Meist sind die Tests nicht durchführbar und die Normierungen machen ob der Divergenz von Entwicklungs- und Lebensalter oft keinen Sinn. Ausserdem sind bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht alle Entwicklungsbereiche auf demselben Niveau. Stattdessen werden systematische Beobachtungsverfahren zur Einschätzung von Einzelsituationen und Gruppensituationen herangezogen. Im Folgenden wird mit der phänomenologischen Diagnostik ein Verfahren skizziert, welches für dieses Teilgebiet der sonderpädagogischen Diagnostik als angemessen beurteilt werden kann.
Phänomenologische Diagnostik
Perspektive und Fragen sind entscheidend. Diagnostik ist die Kunst, ausgehend von lern- und entwicklungsrelevanten Fragestellungen das im Fokus stehende Kind zu verstehen. Gerade bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hängt das Verstehen massgeblich davon ab, welche Fragen gestellt, und wie deren Antworten in einen Zusammenhang gebracht werden. Je nach Perspektive und befragter Modelle erhalten wir dabei verschieden gelagerte Antworten (z. B. hinsichtlich Entwicklung, Befähigungen, Lernstand oder Teilhabe). Die phänomenologische Diagnostik basiert auf der phänomenologischen Philosophie, die besagt, dass das Verständnis der menschlichen Erfahrung und des Bewusstseins von zentraler Bedeutung ist, um entwicklungsrelevante Zustände zu erfassen. Damit ist bei der Diagostik bei kognitiver Beeinträchtigung das Verständnis der individuellen Lebensgeschichte, der persönlichen Erfahrungen und der aktuellen Lebenssituation einer Person von hoher Relevanz.
Erfahrung und Bewusstsein. Im Gegensatz zu anderen diagnostischen Ansätzen und Testverfahren, die sich hauptsächlich auf beobachtbare Verhaltensweisen konzentrieren, versucht die Diagnostik bei kognitiver und komplexer Beeinträchtigung, das subjektive Erleben des Einzelnen zu erfassen: durch Interviews, Gespräche und die Aufmerksamkeit für sprachliche Ausdrücke und nonverbale Signale. Sie betrachtet die subjektiven Empfindungen, Gedanken, Gefühle und Bedeutungen, mit denen kognitiv beeinträchtigte Menschen die Welt organisieren. Dies macht sie zu einer phänomenologischen Diagnostik, welche sich darauf konzentriert, die individuelle Erfahrung und das subjektive Erleben einer Person zu beschreiben und zu verstehen. Daher kann phänomenologische Diagnostik weder eine Statusdiagnostik noch eine Zuschreibungsdiagnostik sein.
Es ist wichtig zu beachten, dass die phänomenologische Diagnostik oft in Kombination mit anderen diagnostischen Ansätzen (entwicklungorientiert, befähigungsorientiert, Lernstand in verschiedenen Fachbereichen) verwendet wird, um ein umfassendes Verständnis der Lebens-, Entwicklungs- und Lernsituation zu erlangen. Bildungsziele ergeben sich zwingend aus den Erkenntnissen dieser Zugänge. Im Weiteren bezieht die phänomenologische Diagnostik alle Beteiligten (Eltern, Schulische Heilpädagog:innen, Therapeut:innen, Sozialpädagog:innen, usw.) in der Diagnostik und der Setzung von Bildungszielen mit ein.
Beschreibung der Abbildung
Die Abbildung zeigt die beiden Ebenen, welche unter dem Oberbegriff der phänomenologischen Diagnostik subsumiert werden können:
- Ebene 1 besteht aus einer allgemeinen Übersicht über die Entwicklungs- und Lernsituation aus der Perspektive der Teilhabe. Diese orientiert sich an der Systematik und Begrifflichkeit der ICF (Aktivitäten in der Mitte, Körperstrukturen, Körperfunktionen, Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren rundherum und wechselseitig aufeinander bezogen)
- Ebene 2 bezeichnet eine systematische Erweiterung der ersten Ebene durch den Einbezug von drei verschiedenen Perspektiven (Fokus):
- Fokus Entwicklung, bei welchem zu verschiedenen Entwicklungsbereichen (wie etwa Kognition, Sozioemotionalität oder Sprache) anhand der Meilensteine der Entwicklungsstand des Kindes (analoges Entwicklungsalter) eingeschätzt wird.
- Fokus Befähigung, bei welchem die überfachlichen Kompetenzen (methodische, personale und soziale Kompetenzen) des Lehrplan 21 um die sechs Befähigungsbereiche der Anwendung des LP 21 erweitert werden.
- Fokus Lernstand, welcher sich entlang der Fachbereiche des Lehrplan 21 orientiert. Bedingung dafür ist, dass die Fachbereiche Mathematik und Sprache aus einem erweiterten Verständnis heraus analysiert werden.
Phänomenologische Diagnostik als Prozess
Gesamtsituation im Fokus. Phänomenologische Diagnostik ist ein Prozess, in welchem je nach Fragestellung zu einem besseren Verstehen des Gegenübers unterschiedliche Faktoren beleuchtet und deren Wechselwirkungen in Bezug gesetzt werden. Die immanenten Fragen lauten: Wie zeigt sich mir das Kind bzw. der Jugendliche und womit könnte das zu tun haben? Im Kontext von kognitiver Beeinträchtigung liegen die Zusammenhänge, welche zu einem beobachteten Verhalten führen, nicht immer auf der Hand. Es bedarf einer sorgfältigen und mehrperspektivischen Ergründung unterschiedlicher Faktoren, um Antworten zu relevanten Zusammenhängen zu finden. Erst wenn ein besseres Verständnis der Gesamtsituation gefunden ist, können Empfehlungen für eine adressatengerechte Reaktion und allfällige Fördermassnahmen herausgearbeitet werden.
Förderdiagnostik. Indem die phänomenologische Diagnostik das Zusammenspiel zwischen vorhandenen Möglichkeiten (inneren Bedingungen) und angemessenen Lernsituationen (äussere Bedingungen) analysiert, schafft sie ein besseres Verständnis für die bestehenden Rahmenbedingungen, in denen sich ein Mensch bewegt. Damit bietet sie die Grundlage für das Auslösen förderlicher und beabsichtigter Lernprozesse. Heilpädagogische Diagnostik ist somit untrennbar verknüpft mit den daraus resultierenden Förderprozessen, weshalb in diesem Kontext auch von Förderdiagnostik gesprochen wird.
Systemische Sichtweise steht im Vordergrund
Beobachten und beurteilen wir ein Kind mit der Haltung, Systematik und Begrifflichkeit der ICF, so ergibt sich ein bestimmtes Erklärungsmuster für die vom Kind gezeigten Verhaltensweisen. Denn nach ICF ist das schlussendliche Verhalten als Wechselwirkung zwischen den Voraussetzungen des Individuums und seiner Umwelt zu verstehen. Eine systemische Sichtweise steht demnach im Vordergrund, so wie sie in der ICF-CY Anwendung findet. Im Kontext kognitiver Beeinträchtigung sind dies folgende Aspekte:
- Differenzierte Entwicklungseinschätzung der Körperfunktionen in Anlehnung an die ICF: Fokus auf mentale, sensorische und bewegungsbezogene Funktionen (Entwicklungstheorien)
- Differenzierte Entwicklungseinschätzung entlang der Körperfunktionen
- Kommunikative Möglichkeiten zur Interaktionsgestaltung
- Grad der Selbständigkeit und der Antrieb dazu
- Welche Mittel oder Methoden können zu welchem Zweck unterstützend eingesetzt werden?
Bei spezifischen Fragen zu Kommunikation, Pflege, Aufmerksamkeit, Essen oder Trinken wird es wichtig, die entsprechenden Funktionsmodelle zu kennen und mit den gezeigten Verhaltensweisen des Kindes zu vergleichen.
Fallbeispiel «Leo»
Der Fokus liegt bei einem Oberstufenschüler und einem Verhalten, das herausfordert. Das Beispiel «Leo» ist aus dem Buch «Wenn Schüler mit geistiger Behinderung verhaltensauffällig sind» (2014, Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung). Leo ist 14,5 Jahre alt, hat einen älteren Bruder, welcher das Gymnasium besucht, und wohnt bei seinen Eltern. Leo besucht die Oberstufe der Heilpädagogischen Tagesschule im Nachbarort und bewältigt den Schulweg seit einem Jahr selbstständig mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Bericht der schulpsychologischen Abklärung wird auf einen tiefen Intelligenzwert im unteren Grenzbereich zur leichten Intelligenzminderung (IQ 69) verwiesen. Erwähnt wird zudem eine Entwicklungsstörung und eine deutliche Beeinträchtigung in der psychosozialen Anpassung.
Beobachtungen der Lehrperson aus der Mathematiklektion: Die acht Schüler der Oberstufenklasse sind in zwei Gruppen aufgeteilt und wetteifern im heissgeliebten «Frankenspiel» darum, welche Gruppe das Geldstück in ihr Sparschwein legen darf. Das Spiel basiert auf viel Würfelglück und ein wenig Strategie. Einer der Kollegen in der Gruppe von Leo würfelt eine 1. «Oh je!», sagt die Lehrperson, «da hast du Pech gehabt, du darfst nur 1 Schritt weiterfahren!» Leo hat seinen Blick auf das Würfelspiel in der Mitte auf dem Tisch gerichtet. Er ruft: «Nein!», steht auf und schlägt seinem glücklosen Kollegen mit der Hand mehrere Male energisch auf den Kopf. Dieser schützt sich, wendet sich ab, steht schnell auf. Der Lehrer versucht zunächst sitzend, dann stehend, den schlagenden Leo und den sich schützenden Kollegen auseinanderzuhalten, steht dann auf und drückt Leo zurück auf seinen Stuhl. «Nein, Leo, so geht das nicht! Beat hat das nicht absichtlich gemacht!» Leo schreit auf: «Er hat mich geschlagen!» und beginnt dann laut und hemmungslos zu schluchzen. Der Lehrer versucht zu vermitteln: «Nein, du hast ihn geschlagen. Du hast gesehen, dass er eine Eins gewürfelt hat, und das hat eurer Mannschaft nicht geholfen. Und du bist wütend geworden. Aber wir spielen, und die Würfel bringen manchmal Glück, manchmal eben nicht.» Leo scheint nicht zuhören zu können. Sein Schluchzen wird mal lauter, dann leiser, sein Körpertonus sinkt langsam. Als sich die Lehrperson wieder der Klasse zuwendet, steht Leo auf und wischt mit einer grossen Bewegung das ganz Spiel vom Tisch auf den Boden. Der Lehrer steht auf, geht hin zu Leo, herrscht ihn an: «Nein, Leo, so geht das nicht! So darfst du nicht weiterspielen. Du gehst jetzt zurück an deinen Arbeitsplatz.» Und trotz heftigem Widerstand zieht und schiebt der Lehrer den wieder schluchzenden Schüler aus dem Kreis und zurück in die Pultreihe.
In der nachfolgenden Tagesbesprechung versuchen die Lehrperson und die pädagogische Assistenzperson, den Vorfall kritisch zu beleuchten. Sie stellen folgende Fragen:
- Sind alle Schüler:innen grundsätzlich fähig, das Würfelspiel mitspielen zu können? Die Antwort ist eindeutig Ja.
- Ist die Aufgabe motivierend? Ja, sehr sogar. Die Schüler:innen freuen sich die ganze Woche auf das Spielritual.
- Was sind die vermutlichen Gründe, weshalb Leo seinen Kollegen zu schlagen beginnt? Nachfolgend werden einige mögliche Gründe diskuiert:
- Leo erkennt, dass eine «1» den Spielstein nur unwesentlich verschiebt und der Gewinn des Frankenstücks in weite Ferne rückt, vielleicht sogar verunmöglicht wird.
- Leo erkennt, dass Beat sowohl gewürfelt als auch den Spielstein gezogen hat.
- Leo wird von wahrscheinlich negativen Emotionen überflutet, spürt Spannungen und löst diese mit «Aufstehen» und «Schlagen» auf. Als Spannungsableiter «wählt» er (aus seiner Sicht korrekt) den Kollegen, welcher die schlechte Würfelleistung gezeigt hat.
- Leo versteht das Spiel an sich. Er kennt die Regeln. Er kann aber seine emotionalen Spannungen nur rudimentär regulieren, und missachtet dabei wichtige soziale Regeln.
- Es ist nachzuvollziehen, dass der Lehrer die anderen Schüler vor den ungerechtfertigten Schlägen schützen wollte; und später auch, dass er nach dem Spielabbruch durch Leo eine Sanktion durchsetzen wollte. Kritisch zu fragen ist, ob er durch seinen zweimaligen Körpereinsatz und die lauten verbalen Zurechtweisungen die körperliche und psychische Integrität von Leo verletzt hat und ein Teil der jäh aufflammenden psychischen Energie auch mit dieser Integritätsverletzung zu tun haben könnte.
Phänomenologische Diagnostik und Bildungsrelevanz
Im diagnostischen Prozess spielt gleichzeitig die dauernde Ausrichtung auf bildungsrelevante Themen eine tragende Rolle. Dies bedeutet, dass die Frage des «Wozu?» ein grosses Gewicht erhält. Der gemeinsame Fokus aller heilpädagogischer Arbeit ist die Ausrichtung auf individuell gewünschte Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus ergeben sich drei bedeutsame bildungsrelevante Themenfelder:
- Kompetenzen und Leistungsfähigkeit: Erwerben und nutzen, dranbleiben und bewältigen
- Zugehörigkeit: Sich austauschen und dazugehören, mitbestimmen und gestalten
- Autonomie und Selbständigkeit: Sich selbst sein und werden, sich und andere anerkennen
Weitere Informationen wurden im Institutsthema Umsetzung des Lehrplans 21 in Sonderschulen aufbereitet.
Literaturhinweise
- Buholzer, A. (2014). Von der Diagnose zur Förderung. Grundlagen für den integrativen Unterricht. Baar: Klett.
- Hollenweger, J., Kraus de Camargo, O. (Hrsg.) (2019). ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. (2., korr. Aufl.). Bern: Hogrefe.
- Schäfer, H., Zentel, P., Manser, R. (unter Mitarbeit von Fröhlich, A.) (2022). Förderdiagnostik mit Kindern und Jugendlichen mit schwerster Beeinträchtigung. Eine praktische Anleitung zur förderdiagnostischen, pädagogisch-therapeutischen Einschätzung und Bildungsplanung. Dortmund: Verlag modernes Lernen.
- Schäfer, H., Rittmeyer, Ch. (Hrsg.) (2021). Handbuch inklusive Diagnostik. Kompetenzen feststellen – Entwicklungsbedarfe identifizieren – Förderplanung umsetzen. (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.