Integration – aber nur auf Zeit?
Reportage
Für Eltern von Kindern mit einer geistigen Behinderung beginnt die Integration meist voller Zuversicht. Doch der Weg ist für alle Beteiligten anspruchsvoll. Und wenn das Kind dann trotzdem in eine Sonderschule wechselt, ist das für viele Eltern schmerzhaft – aber auch entlastend.
Die Spielgruppe besuchte Silas zusammen mit allen anderen Kindern des Dorfes. Silas – heute zwölf – wurde mit einem Hirnfehler geboren und ist in seinen Bewegungen beeinträchtigt. «Sprechen geht gut, aber beim Denken merkt man, dass er eine Behinderung hat.», beschreibt Conny Gmür ihren Sohn, «Als Silas klein war, wussten wir nicht, wie er sich entwickeln würde. Er steckt voller Überraschungen». Was in der Spielgruppe kein Problem war, wurde im Kindergarten schon schwierig. «Die Lehrperson hatte Mühe mit einem behinderten Kind», so die Mutter. Sie war eigentlich voller Zuversicht, dass Silas weiterhin mit den Kollegen aus dem Quartier zur Schule gehen könne. Aber im Laufe der ersten Klasse ging es dem Jungen so schlecht, dass ein Wechsel in eine heilpädagogische Schule unumgänglich wurde.
Hören Sie im Gespräch mit Conny Gmür, wie sie als Mutter die Ernüchterung bewältigt hat und wie es ihrem Sohn Silas heute geht.
Silas (12) ist glücklich an der heilpädagogischen Schule. Er hat Lesen und Schreiben gelernt. Beim Überqueren der Strasse und beim Essen ist er auf Unterstützung angewiesen.
Transkript Gespräch mit Conny Gmür, Mutter von Silas (12)
Probandin in der HfH Masterthese «Von der Integration zur Separation: Sicht der Eltern von kognitiv beeinträchtigten Kindern» (Graf & Schäfer, 2020)
Conny Gmür: Silas ist ein zwölfjähriger Junge. Ganz ein fröhliches Kind, ein aufgestellter Junge, der jetzt mittlerweile ganz, ganz viel gelernt hat. Er ist jetzt an einem Punkt, an dem er auch so ein wenig anfängt, ein bisschen in die Selbstständigkeit zu kommen.
Steff Aellig: Darf ich fragen, was er für eine Einschränkung, für eine Behinderung hat?
Gmür: Ja, Silas wurde geboren mit einer so genannten komplexen Hirnfehlbildung. Das heisst, dass in seinem Hirn gewisse Bereiche anders entwickelt oder gewachsen sind als normal. Er hat beispielsweise einen asymmetrischen Hirnstamm. Das heisst, dass er ganz viele Fehlinformationen an den Körper hat. Seine Grobmotorik ist dadurch sehr beeinträchtigt. Also einfach krabbeln, in den Stand kommen und davongehen, das war nie gegeben.
Aellig: Wenn man jetzt mit ihm zusammensitzt, was kommt einem für ein Junge entgegen, kann er gehen oder ist er im Rollstuhl, kann er sprechen, wie sieht das aus?
Gmür: Ja, also von der Anfangsprognose, dass er quasi gar nichts können sollte, ist er jetzt ein Junge, der geht. Er geht im sogenannten Kauergang, das ist so sehr in den Knien so ein wenig schlurfig. Und er redet ganz normal. Er hat jetzt auch lesen gelernt. Hat schreiben gelernt. Einfach ganz langsam und überhaupt nicht in einem Tempo, das ein Zwölfjähriger schon können müsste.
Aellig: Blenden wir zurück, so ein wenig zum Anfang der Schulzeit, Kindergartenzeit: Wie lief das für Sie als Familie?
Gmür: Ja, wir waren eigentlich wahnsinnig motiviert, haben versucht, das Kind in der Spielgruppe zu integrieren, damit das Kind eine Chance hat, einfach auch andere Kinder kennenzulernen. Und das hat irrsinnig gut funktioniert. Silas konnte dort noch nicht gehen, erst so mit fünf begann er zu gehen. Er kroch halt einfach am Boden herum, hat in seinen Möglichkeiten mitgemacht, hat mehr geschwatzt und geschaut. Da fanden wir, doch, das ist der richtige Weg, ihn in die Gesellschaft oder in eine Gemeinde zu integrieren.
Aellig: Und dann, Kindergarten?
Gmür: Dann haben wir eben angefangen das aufzugleisen. Es sind dann auch Kindergärtnerinnen schauen gekommen. Und dann fand eine Kindergärtnerin: Doch, das versuchen wir, natürlich mit Hilfe, mit Unterstützung von aussen, mit einer Klassenassistenz. Und dann starteten wir das. Natürlich sind dann relativ schnell Probleme aufgetaucht. Zum Beispiel, weil Silas nicht alleine auf die Toilette konnte. Dann fand man, ja, jetzt müsse ich seinen Hintern putzen kommen und so. Und sie haben sich alle etwas überschätzt mit diesem Integrieren. Und dann merkten wir relativ schnell, dass das Kind sehr unglücklich ist. Das wurde dann auch immer schlimmer. Dann haben wir schnell reagiert und schickten ihn zu einer anderen Kindergärtnerin, also wir haben dann die Klasse gewechselt.
Aellig: Ja.
Gmür: Und plötzlich ging es. Sehr wohlwollend. Es war auch eine junge Lehrerin, wo dann einfach auch fand, ja, jetzt machen wir für ihn einfach ein anderes Programm. Und das Kind war ganz toll integriert. Es hat super funktioniert. Wir bekamen dann eine wahnsinnig gute Hilfe, von der Körperbehindertenschule in Zürich. Da kam dann eine Expertin und begleitete das Ganze ein Jahr lang. Ja, dann ging es darum, dass Silas dann in die erste Klasse kommt. Und dann merkten wir dann schon: Jetzt fängt es schon wieder an. Ja, in welches Klassenzimmer, in welche Klasse, zu welchem Lehrer?
Aellig: Wer muss ihn nehmen, quasi, oder wie?
Gmür: Ja, genau, genau. Und dann hat sich dann eine bereit erklärt, das Kind zu integrieren in ihre Klasse. Ist aber kläglich gescheitert.
Aellig: Woran genau?
Gmür: Ja, sie fand dann einfach, ja das sei extrem aufwändig. Und sie war einfach nie bereit, uns ein bisschen entgegenzukommen. Dann musste Silas beim Haupteingang rein, durch das ganze Schulhaus durch gehen, die Treppe hoch und oben alles wieder zurück. Und er kam jeden Tag zu spät, weil er natürlich so dermassen langsam ist. Und dann habe ich ihr gesagt, sie soll ihm doch bitte einen Kameraden an die Hand stellen, der ihn mitnimmt und sagt: «Komm, Silas wir gehen jetzt zackig hoch, damit du nicht zu spät zur Schule kommst.» Dann hat sie gefunden, sie möchte das auf keinen Fall, weil, wenn Silas umfalle, dann sei das andere Kind noch für ihn verantwortlich. Die Frau von der Körperbehindertenschule schloss sie dann ganz schnell aus der Klasse aus, wollte die Beratung nicht mehr. Dann hatte Silas eigentlich nur noch die Klassenassistenz und die Heilpädagogin. Man separierte ihn dann immer, man integrierte ihn nicht mehr. Man stellte die Anforderungen auch dort wieder gleich, wie bei den anderen Kindern. Und dann merkten wir auch relativ schnell, nach einem halben Jahr, das Kind ist total unglücklich, oder.
Aellig: Mhm.
Gmür: In der Pause legte man ihm ein Kissen irgendwo auf einen Stein, setzte ihn hin und sagte: «Hier isst du deinen Znüni!» Er kam ganz viel weinend nach Hause, er wolle nicht mehr in diese Schule. Und da fanden wir, es ist glaube ich der richtige Weg, dass wir eine andere Lösung finden und halt einfach die weisse Flagge hissen und sagen: «Wir geben auf!»
Aellig: Dann wechselten Sie nach der ersten Klasse in die HPS. Wie war das für Sie und für Silas?
Gmür: Er wurde wahnsinnig herzlich aufgenommen und sie bemühten sich sehr, dass es ihm auch wohl ist dort. Es war eigentlich ganz schnell klar, Silas ist dort am richtigen Ort.
Aellig: Und die rein schulische Förderung?
Gmür: Also das sind Welten, das sind absolute Welten. Die Lehrer der HPS geben sich unglaublich Mühe. Es ist das Gesamtpacket, das passt: Er hatte dort Logopädie, er hatte Ergo, er hat Physiotherapie. Es wird individuell jedes Kind angeschaut und dort gefördert, wo es gerade im Moment steht. Er war einfach nicht nur «der Behinderte», sondern man konnte ihn dort abholen, wo er auch stark ist, und wo er Freude hat, und förderte ihn dort. Und er konnte sich einfach wieder richtig entfalten.
Aellig: Und konnte er noch soziale Kontakte im Dorf behalten?
Gmür: Nein, nein. Eigentlich nur über die Erwachsenen-Freundschaften.
Aellig: Wenn sie jetzt so ein wenig zurückschauen, Silas ist jetzt zwölf, hätten Sie gewisse Weichen anders gestellt? Wenn Sie noch einmal zurück könnten?
Gmür: Absolut, ja. Also im Nachhinein muss ich sagen, haben wir ihm nichts Gutes getan. Wir hatten glaube ich einfach so diese schöne Vorstellung, wie wunderbar es ist, dass wir alle gleich sind, schlussendlich, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat. Und ich würde es nicht mehr so machen.
Leistungsschere wird grösser
Bei Janina verlief die Integration bis Mitte sechster Klasse fast problemlos. Heute ist Janina achtzehn und besucht die Werkstufe einer heilpädagogischen Institution. Ihre kognitive Beeinträchtigung sieht man ihr nicht auf den ersten Blick an. «Ich sprach lange einfach von einem Entwicklungsrückstand – in der Hoffnung, das würde sich dann irgendwann ausgleichen.» Doch in der vierten Klasse merkte Denise Forrer, dass die Leistungsschere zu den anderen Kindern immer mehr aufging. Auch entwicklungsmässig: Janinas früheren Kolleginnen hatten plötzlich ganz andere Themen und liessen sie ab und an allein auf dem Pausenplatz stehen. «Wenn’s nach mir gegangen wäre, so wäre die Zeit schon in der fünften Klasse reif für einen Wechsel gewesen», meint die Mutter rückblickend.
Hören Sie im Gespräch, wie Denise Forrer aber auch von den negativen Konsequenzen des Schulwechsels ihrer Tochter Janina erzählt.
Janina (18) besucht die Werkstufe 15plus einer heilpädagogischen Institution. Sie kann lesen und schreiben, einfach langsam. Und seit kurzem hat sie einen Freund.
Transkript Gespräch mit Denise Forrer, Mutter von Janina (18)
Probandin in der HfH Masterthese «Von der Integration zur Separation: Sicht der Eltern von kognitiv beeinträchtigten Kindern» (Graf & Schäfer, 2020)
Denise Forrer: Janina ist achtzehn. Sie ist in der Werkstufe 15plus in Kloten. Das ist wie ein zehntes Schuljahr. Weil sie eigentlich länger Zeit hat, etwas zu finden um eine prakti-sche Ausbildung zu machen. Und wir können dann schauen, ob sie schon eine «PrA-Aus-bildung» macht auf den Sommer hin. Oder ob sie noch ein Jahr länger in dieser Werk-stufe 15plus bleibt.
Steff Aellig: Darf ich fragen, was Janina für eine Beeinträchtigung hat?
Forrer: Das ist einfach eine geistige Behinderung. Also wir wissen nicht genau, warum und wo das entstanden ist, aber es ist einfach eine geistige Beeinträchtigung. So etwa mit zweijährig, oder so, als sie noch fast nichts gesprochen hat und erst mit irgendwie mit 22 Monaten ist sie gegangen. Also es war alles ein wenig verlangsamt.
Aellig: Wenn ich jetzt Janina, die achtzehn ist, treffe, irgendwo, was merke ich? Was sehe ich?
Forrer: Dann sehen Sie eben nichts. Ihr sieht man es nicht an. Man merkt es erst, wenn man mit ihr spricht.
Aellig: Und wie merkt man es? Forrer: Weil sie einfach eher kleinkindlich ist. Also noch häufig solche Sachen macht, die halt ein achtzehnjähriges Kind nicht mehr macht. Auch von der Sprache her merkt man es dann einfach, dass da etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte.
Aellig: Kann sie lesen und schreiben, zum Beispiel?
Forrer: Ja, lesen und schreiben kann sie. Also das Lesen ist halt einfach sehr langsam. Ich lerne immer ein wenig mit ihr. Und lese immer ein bisschen mit ihr, und manchmal sag ich dann «leg doch noch einen Zacken drauf» und so. Aber sie kann beides.
Aellig: Und wenn man sie jetzt mit einer Hunderter-Note einkaufen schickt, geht das auch?
Forrer: Ja, das wird eher schwierig. Aber sie hat immer jemanden gefunden, auch wenn sie sonst einkaufen geht, der ihr dann ein wenig hilft.
Aellig: Blenden wir doch zurück, Frau Forrer, in diese Zeit, in der es darum ging, Janina in den Kindergarten und dann in die Schule zu bringen. Was ging dort ab in Ihrer Fami-lie?
Forrer: Ich wollte es sehr lange einfach nicht wahrhaben. Habe es sehr lange einfach noch als Entwicklungsverzögerung angeschaut. Und irgendwann, tat man sie dann noch ein Jahr in den Kindergarten, also sie ging dann drei Jahre lang in den Kindergarten. Und dadurch, dass sie vorher schon heilpädagogische Früherziehung hatte, wusste man das ja dann, dass einfach eine Heilpädagogin dabei sein muss. So eine Klassenassistentin, die einfach mehr auf sie schaut.
Aellig: Können Sie sich noch erinnern, wann der Punkt war, an dem Sie quasi akzeptie-ren mussten: Nein, es ist eine Behinderung, und das wird nicht so sein, wie alle anderen Kinder sind.
Forrer: Das ging lange. Also, ich denke, wahrscheinlich etwa bis zur dritten, vierten Klasse, dachte ich, ja das ist einfach eine Entwicklungsverzögerung, das wird sich schon noch irgendwie zurechtbiegen. Ich denke, so mit der dritten, vierten Klasse, also mit zehn, elf. Man merkte einfach auch im Alltag, dass einfach alles sehr verzögert ist. Und in der Schule sprach man natürlich auch darüber. Und irgendwann musste man sich dann wie damit abfinden. Was auch jetzt manchmal noch schwierig ist. Also, es ist auch jetzt manchmal noch schwierig, sich damit abzufinden.
Aellig: Wagen wir ein Blick so ein wenig in diese Primarschulzeit, Unterstufe, Mittelstufe: Was lief aus Ihrer Sicht dort gut, und wo wurde es schwierig?
Forrer: Also in der Unterstufe lief es super. Da merkte man gar nicht so viel, sie ist eine sehr Soziale. Und wenn dann die Kinder auch ein wenig mitmachen, dann… Also sie mochten sie auch sehr gerne. Also, erste bis dritte Klasse war gar kein Problem. Und dann in der vierten bis sechsten Klasse hat man dann einfach gemerkt, dass halt diese Schere weiter auseinandergeht. Und, dass die Kinder, also vor allem in der sechsten Klasse, dass sie einfach andere Themen haben, schon sehr viel weiter sind. Sie war im-mer noch sozial, aber man merkte einfach, dass sich sehr viele, auch sehr gute Kollegin-nen, von ihr abgewandt haben. Also mir tat es wahrscheinlich fast mehr weh, als ihr. Und deshalb muss ich sagen, so Ende fünfte Klasse, wäre eigentlich schon der Zeitpunkt ge-wesen, dass wir hätten sagen müssen, es ist vielleicht besser, wenn sie in die heilpädagogische Schule geht. Und dann gingen wir das einmal anschauen. Und ich bin einfach auch etwas erschrocken, da gibt es einfach wirklich auch Kinder, ja, Kleinwüchsige, die du einfach siehst, mit Down-Syndrom und allem. Ich hatte anfangs einfach ein wenig Mühe, sie in die heilpädagogische Schule zu schicken.
Aellig: Wie erlebte das Janina selbst?
Forrer: Also am Anfang fand sie, sie hätte halt trotzdem auch einige Kinder vermisst. Aber nachher war das überhaupt kein Problem, weil sie hatte es ja dann auch gut mit de-nen von der heilpädagogischen Schule.
Aellig: Leistungsmässig, in Bezug auf die Förderung, auf die schulische Förderung, was haben Sie beobachtet? Was haben Sie erlebt?
Forrer: Der Vorteil ist natürlich, dass sie mehr auf das Kind eingehen können. Und der Nachteil ist einfach, dass sie schlechter spricht als vorher.
Aellig: Was haben Sie das Gefühl, mit was hing das zusammen?
Forrer: Ja, es gibt halt sehr viele Kinder, die schlechter sprechen. Das nahm sie dann wie so an.
Aellig: Jetzt ist sie ja in dieser Werkstufe 15plus, wie geht es ihr dort?
Forrer: Dort geht es ihr auch sehr gut. Sie hat dort eben ihren Freund gefunden. Also sie ist immer am Lachen. Ihr geht es glaube ich immer gut. Also sie kann natürlich schon auch weinen und so, sie hat schon auch Emotionen, aber meistens geht es ihr heute sehr gut. Sie hat dort auch wieder neue Freunde, sie ist natürlich halt in der besseren Klasse.
Aellig: Ja, schön. Und konnte sie irgendwie noch Kontakte behalten, jetzt im Quartier oder in der Nähe, wo Sie wohnen?
Forrer: Ja, da gibt es bestimmt noch drei, vier Kolleginnen, mit denen sie noch regelmässigen Kontakt hat. Aber es ist halt schon so, sie ist halt jetzt in Kloten. Und viele, mit denen sie hier noch Kontakt hat, sind jetzt halt in der Lehre. Dann sieht man sich halt auch nicht mehr so wahnsinnig viel.
Aellig: Wenn Sie jetzt zurückschauen auf diesen ganzen Weg, Janina ist jetzt achtzehn, in Bezug jetzt auf die integrative Schule, separative HPS, hätten Sie rückblickend etwas an-ders gemacht, wenn Sie noch einmal zurück könnten?
Forrer: Nein, ich hätte es wieder genauso gemacht, wie ich es jetzt gemacht habe.
Erhöhte Emotionalität vor dem Wechsel
Die beiden HfH-Absolventinnen Alexandra Graf und Petra Schäfer haben im Rahmen ihrer Masterthesis die Perspektive der betroffenen Eltern bei diesem Übergang von der Integration in die Separation erforscht. «Da wir explizit diesen Wechsel untersuchen wollten, haben wir natürlich nur Familien in unsere Studie aufgenommen, bei denen die Integration beendet wurde», erklärt Alexandra Graf, Schulische Heilpädagogin in einer Sonderschulinstitution. Die zehn Fallgeschichten, die mittels Elterninterviews aufgezeichnet wurden, verliefen alle sehr unterschiedlich. Dennoch lassen sich ein paar Gründe erkennen, die beim Wechsel in die Separation immer wieder eine Rolle spielen: etwa Entwicklungsunterschiede, die mit zunehmendem Alter sicht- und spürbarer werden. Oder die generelle Überforderung des Regelschulsystems mit den behinderungsspezifischen Anforderungen des Kindes. Petra Schäfer, die als Schulische Heilpädagogin in der Integration arbeitet, sagt: «Insgesamt geht dem Wechsel meistens eine Phase von erhöhter Emotionalität voraus». Denn auch wenn in diesen ausgewählten Fallgeschichten letztlich die Vorteile der Separation überwiegen – die befragten Eltern berichten innerhalb dieses Entscheidungsprozesses immer auch von negativen Aspekten der Separation, die Teil ihrer Abwägung waren. In der nachfolgenden Grafik sind solche positiven und negativen Auswirkungen des Übergangs in die Separation zusammengestellt.
Die meisten der befragten Eltern erzählen rückblickend, dass im separativen Setting die Vorteile mehr Gewicht haben als die Nachteile.
Beschreibung der Grafik. Die Vor- und Nachteile vom separativen Setting werden grafisch dargestellt. Die Vorteile beinhalten: besseres Selbstwertgefühl, individualisierte Lerninhalte, angepasste Tagesstrukturen und Freundschaften knüpfen. Die Nachteile sind: Sprache verschlechtert, tiefe Anforerungen, Aufwand für Kontakte und Freundschaften gehen verloren.
Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Von der Integration in die Separation. Sicht der Eltern von kognitiv beeinträchtigten Kindern.» eingeblendet. Das Interview wird geführt durch Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH.
Im Video-Interview erläutern Alexandra Graf und Petra Schäfer, wieso die Integration bei manchen Kindern besser gelingt als bei anderen.
Video-Abspann in Textform
Von der Integration in die Separation. Sicht der Eltern von kognitiv beeinträchtigten Kindern. (HfH Masterthese, Zürich 2020)
- Autorinnen und Gesprächsgäste: Alexandra Graf (Schulische Heilpädagogin) und Petra Schäfer (Schulische Heilpädagogin)
- Gesprächsleitung: Dr. Steff Aellig (Wissenschaftskommunikation HfH)
- Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
- Konzeption und Regie: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler
Fehlende Ressourcen in der Regelschule
Raphaella hat Trisomie-21 und ist heute dreizehn. Ihr Vater Mike Antoniadis berichtet von denselben Phasen, welche die Familie damals durchlebte: Zuerst die Zuversicht, dass Raphaella mit allen anderen Kindern zur Schule kann. Dann die Ernüchterung, dass das Schulsystem bereits im Kindergarten an die Grenze der Überforderung kam. Und zum Schluss die Erleichterung, dass mit dem Wechsel von Raphaella in eine heilpädagogische Schule der ganze Druck wegfiel. Von da an lief aus seiner Sicht alles optimal: Kleine Klassen, professionelle Förderung, gute «Gspänli» für seine Tochter sowie hervorragende Kommunikation mit den Eltern. «Integration funktioniert nur auf dem Papier», bilanziert Mike Antoniadis die eigene Erfahrung, «in der Praxis ist das System der Regelschule schnell am Anschlag mit behinderten Kindern. Es fehlt an Ressourcen und an behinderungsspezifischem Know-how».
Hören Sie im Gespräch mit Mike Antoniadis, was er rückblickend anders gemacht hätte mit der Schulung seiner Tochter.
Raphaella (13) hat zwei jüngere Brüder und geht in eine heilpädagogische Schule. Sie hat Trisomie 21, kann kurze Wörter lesen und schreiben und hat viele Freundinnen.
Transkript Gespräch mit Mike Antoniadis, Vater von Raphaella
Proband in der HfH Masterthese «Von der Integration zur Separation: Sicht der Eltern von kognitiv beeinträchtigten Kindern» (Graf & Schäfer, 2020)
Mike Antoniadis: Wir haben eigentlich schon vor der Geburt gewusst, dass sie Trisomie 21 haben wird. Dementsprechend konnten wir uns auch ein wenig vorbereiten, was ich jedem empfehle. Sie kam normal zur Welt, keine Frühgeburt, nichts. Und hat eigentlich eine ganz normale Entwicklung durchgemacht. Wir hatten also noch Glück, muss man sagen, dass sie sonst keine grösseren Gebrechen hatte. Viele haben ja Herzfehler, Nieren, etcetera, was auch immer. Von dem her konnte sie eigentlich normal aufwachsen. Es kam dann ein zweites Geschwister, und dann noch ein drittes. Ein oder zwei Jahre später kam sie ganz normal in den Kindergarten. Und zwar in den Regelkindergarten. Sie war aber auch vorher relativ gut integriert im Dorf, hat die Spielgruppe gemacht, wir hatten da auch Waldspielgruppe etcetera. Die haben das hervorragend gemacht.
Steff Aellig: War es klar, dass sie beim Eintritt in den Kindergarten mit den Freunden vom Quartier in den Quartierskindergarten gehen wird?
Antoniadis: Ja, das haben wir eigentlich gewusst, und es war auch nie ein Thema, dass das nicht gehen sollte. Und das waren dann wirklich auch gleichaltrige Kinder zu diesem Zeitpunkt, sie kam also nicht irgendwie später in den Kindergarten. Sondern wir haben eigentlich mit den Gleichaltrigen mal gestartet, oder.
Aellig: Ja.
Antoniadis: Mit allen Nachteilen, die es halt gibt, ist, dass Raphaella halt teilweise im Kindergarten die Windeln gewechselt werden mussten. Sie hatte natürlich spezielle Be-treuung.
Aellig: Und danach dann beim Übertritt, als es darum ging, in die erste Klasse zu kom-men?
Antoniadis: Ja, die Thematik war dort, wir hatten logischerweise auch Vorgespräche, wie alle Eltern das auch haben, mit einem «normalen» Kind. Wir haben uns dann auch bei diversen Organisationen erkundigt, also bei Insieme-21. Sprachen dann aber auch mit Eltern, die auch Kinder hatten, die aber bereits integriert wurden. Und wir haben durchwegs gehört, dass das keinen Sinn macht. Einfach zum heutigen Zeitpunkt, weil die Schulen einfach nicht so weit sind. Diese Eltern, die auch ältere Kinder haben, haben gemerkt, irgendwann, in der zweiten, dritten Klasse, ist es so oder so vorbei. Die Schere geht so weit auf, zwischen den Kindern, aber auch in den Lernmethoden, dass es keinen Sinn macht, dieses Kind einzuschulen. Das war der eine Teil. Der andere Teil war die persönliche Meinung, die wir hatten, oder die zwei Jahre Erfahrungen, die wir sammeln durften im Kindergarten, wo wir einfach gemerkt haben, ja, Integration auf dem Papier funktioniert einwandfrei, es ist super in der Theorie. In der Praxis funktioniert es überhaupt nicht. Aellig: Und warum nicht? Im Kindergarten hatte es ja geklappt, oder? Antoniadis: Es klappte eben nicht richtig im Kindergarten, wir mussten relativ viele Kompromisse machen, weil die Kindergärtnerin generell einfach überfordert war. Sie hatte das Know-How nicht. Sie wusste nicht: «Wie muss ich mit dieser Situation umgehen?» Sie wusste auch nicht: «Ja, was muss ich machen? An wen muss ich mich wenden?» Für uns, das haben wir auch gesagt, war die Kindergärtnerin auch nicht schuld. Abgesehen davon, wie gehe ich mit diesen oder mit solchen Kindern um? Das waren für uns dann auch ganz klare Ansätze, wo wir sagen mussten: Nein, das macht keinen Sinn, diese Schule ist überfordert. Ohne den zusätzlichen Effort, für welchen die meisten Schulen die Kapazität auch gar nicht haben, ist es gar nicht möglich, Kinder, ich spreche jetzt von unseren Kindern, also von unserer Raphaella, mit Downsyndrom, wirklich zu integrieren.
Aellig: Mhm.
Antoniadis: Also das eine ist der schulische Aspekt, vielleicht ganz kurz, und das andere ist der zwischenmenschliche, also der soziale Aspekt. Die Schere, also auch die zwi-schenmenschliche, geht so weit auseinander, unser Kind ist so weit zurückgeblieben in der Entwicklung, dass es einfach keinen Sinn macht und sie auch so den Anschluss ver-liert. Was in einer heilpädagogischen Schule natürlich definitiv anders ist, weil dort hat sie auch jetzt natürlich Freunde, mit denen sie sich auf ihrem Niveau austauschen kann.
Aellig: Machen wir geraden den Sprung nach vorn, Raphaella ist jetzt dreizehn. Ist seit der ersten Klasse in einer heilpädagogischen Schule. Wie geht es ihr? Wie läuft es dort?
Antoniadis: Also wir finden, es geht super gut. Sie gibt uns auch das Zeichen oder das Gefühl, dass es für sie auch passt, sie geht gerne zur Schule. Sie macht Fortschritte in ih-rem möglichen Rahmen, sag ich jetzt mal, in ihren Möglichkeiten.
Aellig: Darf ich da gerade kurz einhängen, es nimmt mich Wunder: Wenn man jetzt mit Raphaella zusammensitzt, was kann sie? Was kann sie leisten? Auch schulisch, kann sie lesen und schreiben, wie sieht es da bei ihr aus?
Antoniadis: Ja, sie müssen sich das so vorstellen: Sie ist jetzt etwa so auf dem Kinder-gartenniveau. Sie kann ihren Namen schreiben, sie kann Buchstaben lesen.
Aellig: Und so Alltagsbewältigung, kann sie alleine mit dem Bus zur Schule, oder wie ist das? Antoniadis: Nein, das kann sie nicht. Also, sie wird jeden Tag abgeholt. Wir versuchen jetzt zum Beispiel, mit ihr in den Volg bei uns im Dorf, sie geht alleine in den Volg einkaufen. Dorthin schicken wir sie, weil wir einfach die Leute, das Umfeld kennen. Aber mit den Zahlen, sag ich jetzt einmal, also ein Kilo Brot kostet drei Franken fünfzig, das weiss sie nicht.
Aellig: Könnten sie noch etwas sagen, so zu der sozialen Integration, jetzt mit den Freunden in der HPS versus mit Freunden im Quartier, ist da noch was da?
Antoniadis: Also ich gebe ihnen ein Beispiel, am Sonntag waren wir Schlitteln. Und mit diesen Mädchen, mit denen sie da im Kindergarten war, klar, das sind jetzt auch vier, fünf Jahre her, oder sechs teilweise. Die sagen ihr knapp noch Hallo. Also sie können mit ihr nichts anfangen. Sie hat aber Freunde an der HPS, mit denen sie regelmässig abmacht. Mit diesen Freunden, zum Beispiel mit dem einen, telefonieren sie auch oder schreiben per Whatsapp, vor allem.
Aellig: Ja.
Antoniadis: Also dort ist der Kontakt eigentlich da. Hingegen zu denen bei uns im Dorf, oder, von früher, dort ist der Kontakt eigentlich mehr oder weniger tot.
Aellig: Was mich noch Wunder nimmt ist Ihre Sicht auf die spezifische Förderung jetzt an der HPS. Was haben Sie für einen Eindruck vom Unterricht, von der Förderung für Raphaella, ist das ein gutes Angebot?
Antoniadis: Ja, also ich bin sehr zufrieden. Warum bin ich sehr zufrieden: Es sind Klein-klassen, das merkt man, das waren in der Vergangenheit etwa fünf Kinder mit zwei Hauptlehrerinnen, teilweise noch eine Unterstützung. Weil es dort natürlich auch Kinder hatte mit schwereren Behinderungen als das von Raphaella. Die Lehrer haben logischer-weise als Heilpädagogen viel mehr Empathie. Klar, man hat halt auch viel mehr Zeit, man kann sich den Kindern annehmen. Man hat aber auch ganz klar einen Leistungsauftrag, Leistungskatalog, in Absprache mit uns Eltern, aber auch mit der Schule. Wohin wollen wir die Kinder entwickeln? Was ist das Ziel? Man holt die Eltern ab. Sie haben einen klaren Leistungsauftrag und die fordern diese Kinder auch. Also Raphaella kommt öfters am Abend nach Hause und sagt: «Du, heute hatte ich keine Lust und heute war es streng.» Und das sagen die anderen Kinder in einer normalen Schule ja auch. Und das ist für mich schon auch ein Zeichen, dass sie dort auch an ihre Grenzen geht. Natürlich muss man fairerweise auch sagen, es ist auf dieses Kind abgestimmt. Oder, es ist nicht so durchgepaukt wie in einer Regelschule. Aber nein, also da ist Leistung gefragt.
Aellig: Aus Ihren Ausführungen habe ich wie gehört, die Regelschule ist eigentlich noch gar nicht bereit, für diese Aufgabe, oder habe ich herausgehört, das ist auch gar nicht das Ziel, und diese Kinder sind in einem geschützteren Rahmen per se besser aufgehoben?
Antoniadis: Das würde ich so nicht sagen, ich würde eher sagen, die Schulen sind nicht bereit, nochmal, in der Theorie, das sage ich auch aus meiner Erfahrung, ich war fünf Jahre in der Schulpflege hier bei uns im Dorf, in der Theorie ist es wirklich super, das Modell in der Theorie ist super. Ich glaube einfach, dass sich das in der Praxis nicht um-setzen lässt, einfach das Mindset der Lehrer, die Einstellung gegenüber Integration, die fehlt aus meiner Sicht irgendwie.
Aellig: Und denken Sie, der Hauptpunkt, weshalb es so schwierig ist, ist wirklich in der Einstellung, oder geht es da auch rein um Know-How im Umgang mit Förderung von Be-hinderten?
Antoniadis: Ich denke, es ist beides, ich denke, langfristig sind wir schon auf dem richtigen Weg. Aber kurzfristig braucht es einfach Zeit. Und ich glaube, diese Zeit muss man sich auch geben. Aber nochmals, ich wiederhole es: Eine Heilpädagogische Schule wird man immer brauchen. Man wird nicht drum herum kommen. Die komplett zu integrie-ren, für das funktioniert unser Schulsystem einfach – anders. Das wird nicht gehen.
Aellig: Rückblickend jetzt nochmals auf die Schulgeschichte von Raphaella geschaut: Hätten Sie etwas anders oder besser gemacht, wenn Sie nochmal zurück könnten? Oder anders gefragt: Was hätten Sie sich gewünscht?
Antoniadis: Ich denke nicht, dass, im Wesentlichen jetzt gesagt, wir etwas anders ge-macht hätten, denn ich glaube, wir haben aus der Situation das Beste gemacht auch mit der Schule. Wir hätten uns ein wenig mehr Offenheit und auch Vertrauen in die Situation von der Lehrerin gewünscht.
Ein Wechsel ist kein Scheitern
Wieso tut sich die Regelschule so schwer mit dem Anspruch, eine «Schule für Alle» zu sein? Grosse Klassen, heterogene Schülerschaft, zu wenig ausgebildetes Fachpersonal – so lauten die Argumente der Schule, wieso es schwierig sei, Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung zu integrieren. Wäre es da nicht ehrlicher, diese Kinder von Anfang in einer heilpädagogischen Schule zu unterrichten, anstatt ihnen und ihren Familien zuerst zu beweisen, dass sie den Anforderungen der Regelschule nicht gewachsen sind?
«Vielen Eltern ist beim Eintritt in den Kindergarten nicht von vornherein klar, dass ihr Kind eine kognitive Beeinträchtigung hat», meint Peter Lienhard, «die Fallgeschichte von Janina, ist eines dieser Beispiele, wo es klar ist, dass der Schulstart in der Integration erfolgt.» Lienhard ist Professor an der HfH und beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen um Integration und Separation. Aus seiner Sicht ist der Wechsel in die Separation aber nicht als gescheiterte Integration zu bezeichnen. Das gewählte Setting muss in erster Linie zur Entwicklungsphase und den jeweiligen Zielen des Kindes passen», so Lienhard, «aber natürlich auch zum System der Regelschule und ihren verfügbaren Ressourcen.» Tatsächlich müssen zahlreiche Faktoren im Schulsystem gut aufeinander abgestimmt sein, damit eine Integration langfristig gelingt. Die Einstellung der Klassenlehrperson zum Kind und seiner Behinderung sei zentral. Aber auch die Form der Zusammenarbeit und Unterstützung innerhalb einer Schule. «In einer Schule, wo dies nicht funktioniert, leidet am Schluss das betroffene Kind», ist Lienhard überzeugt, «dort bringt ein Wechsel in eine heilpädagogische Schule oft die notwendige Entlastung».
Im Gespräch erläutert Peter Lienhard, Professor an der HfH Zürich, seine Vision, wie Regelschulen den anspruchsvollen Integrationsauftrag besser erfüllen könnten.
Transkript Gespräch mit Peter Lienhard
Senior Consultant an der HfH Zürich und Experte für Fragen zu Integration und Separation
Steff Aellig: Peter Lienhard, in der Arbeit wurden zehn Familien untersucht, wo die Integration irgendwann beendet wurde, in eine Separation überführt wurde. Wenn man jetzt dem Erzählfaden dieser zehn Eltern folgt, dann kann man sagen, wenn es ideal läuft, dann reicht der «Integrations-Sprit» bis irgendwie in die Oberstufe oder Anfang Pubertät, aber dann ist definitiv fertig?
Peter Lienhard: Häufig ist das tatsächlich so und das hat eben auch mit der Entwicklung zu tun, mit der Pubertät beispielsweise. Weil da auch die Interessen, oder die gemeinsamen Spiele, die einem Spass machen, wirklich mehr auseinanderklaffen, als wenn ich eine Gruppe von sechsjährigen habe, beispielsweise. Aber was mich an dieser gedachten Schwelle stört, ist, dass wir auch Ideen haben könnten, wie wir beispielsweise auch in einem grossen Schulhaus auch eine Gruppe von Jugendlichen gut schulen und betreuen könnten, und immer wieder überlegen, was könnten wir gemeinsam machen. Da haben wir in der Schweiz noch nicht wahnsinnig viele durchlässige Modelle.
Aellig: Wäre es nicht ehrlicher und dem Kindswohl dienlicher, von Anfang an zu sagen, wir starten gleich in der Separation, sofern die kognitive Beeinträchtigung wirklich klar und diagnostiziert ist?
Lienhard: Das greift für mich aus zwei Gründen zu kurz. Also einerseits haben wir, von den Eltern auch, gehört, dass teilweise ein Regelklassenwechsel dazu geführt hat, dass es dem Kind besser ging. Also das heisst, es hängt nicht nur von der kognitiven Beeinträchtigung oder an der Art, des beeinträchtigten Kindes ab, ob eine Situation gelingt, sondern auch am Umfeld. Also an den Lehrpersonen, am Unterstützungsumfeld, an den Einstellungen, die in dieser Regelklasse vorhanden sind. Und das Zweite ist: Wenn ich in einer Sonderschule bin, dann habe ich ein Anregungsumfeld. Ich habe eine spezifischere Therapie, Unterstützung. Aber eine doch ziemliche Einschränkung dessen, mit wem ich zu tun habe. In der Regelklasse ist das sehr viel breiter. Also da kann ich auch für meine gesellschaftliche Integration sehr viel lernen als Kind mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Und auch mit den grossen Herausforderungen, dass ich aushalten muss, dass ich gewisse Leistungen nicht erbringen kann. Das erachte ich als Wert, den diese Menschen auch stärker machen können, diese Kinder und Jugendlichen. Und ich denke, für die gesellschaftliche Entwicklung ist es eben wichtig, dass Kinder ohne Beeinträchtigung auch Kinder mit einer kognitiven Behinderung, beispielsweise, kennenlernen. Das gehört zu unserer Gesellschaft, das gehört zur Breite unseres Zusammenlebens.
Aellig: Wenn ich dich so richtig verstehe, dann stehst du eigentlich hinter der Prämisse – und wie es auch der Gesetzgeber will – Integration muss zumindest überprüft oder probiert werden, bevor das Kind in die Separation wechselt?
Lienhard: Ja, da stehe ich voll und ganz dahinter. Aber ich bin gegen jemanden, der sagen würde, das muss, auf Schweizerdeutsch sagt man «gehauen oder gestochen», muss dieser Weg durchgezogen werden. Ich finde es ganz wichtig, dass man immer drauf schaut, wie fühlt sich das Kind auch? Hat es die Möglichkeit, vertrauensvolle Beziehungen zu knüpfen? Hat es die Möglichkeit, an gemeinsamen Themen zu lernen und zu arbeiten? Hat es die Möglichkeit, wirkliche Erfolgserlebnisse zu machen? Und das hängt eben wiederrum nicht nur von Kind ab, sondern auch vom Angebot, wie wir es schaffen, beispielsweise, das Unterrichtsangebot so zu differenzieren. Und es ist klar, wenn die Schere ganz massiv auseinandergeht, und das ist häufig eben in der Entwicklungsphase der Pubertät, wo die Themen dann wirklich stark auseinanderklaffen zwischen Vierzehnjährigen beispielsweise. Da kann man sich überlegen: Ist das noch das angemessene Bildungs- und Lebensumfeld in dieser Klasse? Aber, das heisst nicht, dass die Jahre zuvor verloren oder total falsch gewesen sind.
Aellig: Jetzt gibt es aber bei diesen Geschichten schon einige, da ist schon viel früher der Wechsel angezeigt in die Separation. Wieso tut sich die Regelschule so schwer, Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung länger integriert beschulen zu können?
Lienhard: Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass die Regelschule eben nicht nur einen gesellschaftlichen Integrationsauftrag hat, sondern auch einen Selektions- und einen Leistungsauftrag, wenn man das so sagen will. Also wir haben eine leistungsorientierte Schule. Und das ist ein Spannungsfeld, das natürlich auch die Lehrpersonen merken. Und das führt dann eben dazu, dass man, auch wenn man sagt, dieses Kind hat angepasste Lernziele, eigentlich möchte man es doch am liebsten immer auf den gleichen Leistungsstand bringen. Und das ist eben das Schwierige, dass es wie ein grosses Puzzle ist, das nur dann gut gelöst werden kann, wenn man offen an einem Standortgespräch, immer wieder schaut: Ist die Situation noch die richtige? Wenn es irgendwo harzt, was können wir machen? Oder müssen wir den grossen Schritt machen, hin zu einem anderen, einem Sonderschulsetting beispielsweise?
Aellig: Wie sähe dann in deinen Augen eine ideale Schule aus, die den Integrationsauftrag ernstnimmt und gleichzeitig auch diesem Leistungs- und Selektionsauftrag nachkommen kann?
Lienhard: Es müsste eine Schule sein, die viel Freiheit hat, verschiedene Settings innerhalb dieser Schule umzusetzen. Also wenn ich das Setting habe, einfach die Klasse, die fortschreitet, in der fünften Klasse kommen die Brüche, in der sechsten Klasse kommt das Prozentrechnen, wenn das so die Hauptausrichtung ist, dann kann diese Schule nicht wahnsinnig nachhaltig integrativ sein. Mehr Gelassenheit, mehr Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren, die man vielleicht bisher nicht auf dem Radar hatte. Aber, wie gesagt, das braucht Ressourcen, das kann ich nicht machen mit einer Klassenlehrperson und einer Schulischen Heilpädagogin oder einem Schulischen Heilpädagogen, der drei Lektionen die Klasse begleitet.
Autoren: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler, HfH Wissenschaftskommunikation