Begabtenförderung auf dem Prüfstand

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Kinder mit einer hohen Begabung sollen in der Schule gezielt gefördert werden. Nun zeigt eine HfH-Studie auf, welche Kinder in der deutschsprachigen Schweiz davon profitieren und wie die Entscheidungsprozesse gestaltet werden.

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Anuschka Meier-Wyder Titel Dr. phil.

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Senior Lecturer

Drei bis vier Angebote pro Schule. Zuerst müssen zwei Begriffe unterschieden werden, die ähnlich klingen und deshalb häufig vermengt werden, was die Diskussion aber verwässert. 

  • Begabungsförderung meint, dass die Stärken eines jeden einzelnen Kindes im Unterricht adressiert werden sollten.
  • Begabtenförderung hingegen zielt auf eine spezifische Gruppe ab, nämlich auf die rund zwei Prozent Kinder, die eine Hochbegabung haben.

Um diese Kinder geht es in der vorliegenden Übersichtsstudie, in welcher die aktuelle Situation in den Schulen der Deutschschweiz und im Fürstentum Liechtenstein untersucht wurde. «Wir stellen grundsätzlich fest, dass ein breites Angebot für Begabtenförderung besteht», sagt Projektleiterin Anuschka Meier-Wyder. Pro Schule sind dies im Schnitt drei bis vier Massnahmen, von der Projektarbeit während des Unterrichts bis hin zum Überspringen einer Klasse. Insgesamt profitieren 6.5 Prozent aller Kinder von der Begabtenförderung. Demgegenüber sind den Schulen nur rund 0.6% aller Schülerinnen und Schüler mit einer abgeklärten Hochbegabung bekannt.

Selektion ist verzerrt. Was weiss man über die Schülerinnen und Schüler in diesen Angeboten? «Bestimmte Gruppen sind stärker vertreten», sagt Anuschka Meier-Wyder. Der typische Teilnehmer ist männlich, besucht in einer grösseren Schule die Primarstufe und hat gute Noten. Dass mehr Knaben in den Angeboten beteiligt sind, ist insofern überraschend, da zum Teil die Noten als Grundlage verwendet werden: «Wenn die Noten als Grundlage verwendet werden, sollten eigentlich mindestens gleich viele Mädchen wie Knaben in den Angeboten vertreten sein», sagt Meier-Wyder. Weil aber häufig auch eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst als Grund der Zuweisung genannt wurde, sei eine Vermutung, dass die Knaben häufiger durch auffälliges Verhalten auf sich aufmerksam machen.

Nur die Hälfte hat Förderziele. Aus pädagogischer Sicht bemerkenswert: Bei nur knapp 54 Prozent der Schulen wurden für die betroffenen Kinder konkrete Förderziele definiert. Diese braucht es aber unbedingt: «Begabtenförderung darf nicht einfach eine Belohnung sein», sagt Anuschka Meier-Wyder: «Vielmehr müssen diese Kinder im Rahmen der Förderung in die Lage versetzt werden, ihr Potenzial besser zu entfalten.» Indem sie zum Beispiel eine Reihe von Lernstrategien kennenlernen oder dabei unterstützt werden, wie man konstruktiv mit eigenen Fehlern im Unterricht umgeht. Solche Themen und Schwerpunkte bilden die pädagogischen Grundpfeiler der Begabtenförderung.

Mehr Know-how. «Es gibt viele, mit grossem Engagement durchgeführte Angebote in der Begabtenförderung», zieht Anuschka Meier-Wyder ein Fazit der Studie, ergänzt jedoch im gleichen Atemzug: «Aber zu diskutieren ist, ob die richtigen Kinder von den passenden Angeboten profitieren können.» Damit dies gewährleistet werden kann, braucht es in den nächsten Jahren vor allem noch mehr Know-how und eine grössere Akzeptanz in den Schulen. Hier hat es noch Luft nach oben: Gemäss der Studie werden in einem Drittel der Schulen Weiterbildungen zur Begabtenförderung besucht, in einem Drittel ist dies erst geplant oder im Gespräch, und für ein Drittel der Schulen ist dies überhaupt kein Thema. Dass die Nachfrage grundsätzlich da ist, zeigt das Beispiel der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH): Der CAS Begabungs- und Begabtenförderung integrativ (BBFi), den die HfH in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) durchführt, ist auch in der zweiten Durchführung wieder ausgebucht.

Mehr zum Projekt. Die Studie basiert auf einer Onlinebefragung, welche an alle Volksschulleitende in der Deutschschweiz und dem Fürstentum Liechtenstein im April 2024 verschickt wurde. Zum Projekt

Autor: Dominik Gyseler, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation

Ergebnisse im Überblick

Ergebnisse. Der detaillierte Schlussbericht erscheint in Kürze. Nachfolgend sind die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

  • Von den insgesamt angeschriebenen 2588 Schulleitenden (davon 487 im Kanton Zürich 2020) haben 1018 geantwortet. Dies entspricht einem Rücklauf von 39.3%.
  • Rund 91% der Schulen geben an, dass sie ein oder mehrere Angebote für besonders begabte Schülerinnen und Schüler führen. Im Schnitt sind dies drei bis vier Angebote bzw. Massnahmen pro Schule. Am häufigsten werden die Angebote «Überspringen einer Klasse» (71%) und «Projektarbeit während der Unterrichtszeit, ausserhalb der Klasse» (73%) geführt. Das Angebot des «Besuchs in höheren Klassen» (17%) wird am wenigsten häufig praktiziert. 92 Schulen (9%) berichten, dass sie kein Angebot im Bereich der Begabtenförderung haben.
  • Insgesamt zeigen die Angaben der Schulen, dass im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Schülerinnen und Schüler 6.5% der Lernenden an einem Angebot der Begabtenförderung teilnehmen. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler in den Angeboten wurde jeweils getrennt nach Geschlecht erhoben. Die Ergebnisse zeigen zusammenfassend, dass mehr Jungen an den Angeboten der Begabtenförderung teilnehmen als Mädchen.
  • Als Grundlage für die Identifikation der Schülerinnen und Schüler werden mehrheitlich die Abklärung beim schulpsychologischen Dienst (64.3%) oder die Noten (55.1%) genannt. Schuleigene Instrumente (26.6%) zur Identifikation werden im Vergleich weniger häufig genutzt. Bei der Identifikation sind vor allem die Klassenlehrpersonen (91.8%) und Schulischen Heilpädagog:innen (80.0%) involviert. Bei beiden Fragen waren Mehrfachnennungen möglich.
  • In Bezug auf die Förderziele kann festgehalten werden, dass 54% der Schulen Förderziele im Bereich der Begabtenförderung formulieren. Zusätzlich wurde nachgefragt, wer für die Formulierung der Förderziele zuständig ist. Am häufigsten werden die Schulischen Heilpädagogen und Heilpädagoginnen mit rund 68% mitinvolviert. Ausserdem werden die Klassenlehrperson in 53% und die Fachlehrperson BBF in 40% miteinbezogen.