«Nicht Sprachwissen überprüfen, sondern Sprachlernfähigkeit»

Tagungsrückblick

Um mehrsprachige Kinder optimal fördern zu können, muss man ihr Potenzial einschätzen. Dazu reicht es aber nicht, den aktuellen Entwicklungsstand in Deutsch zu erfassen. Vielmehr muss ausgelotet werden, wozu das Kind mit Unterstützung fähig wäre. Ansätze dazu wurden an der Tagung «Adaptive Sprachförderung bei Mehrsprachigkeit» vom 15. Juni 2024 diskutiert.

Kontakt

Britta Massie Titel Prof., Dr. rer. biol. hum.

Funktion

Professorin für Sprachförderung und Sprachdidaktik in heterogenen Lerngruppen (in Stellenteilung)

Karin Zumbrunnen Titel Prof.

Funktion

Professorin für Sprachförderung und Sprachdidaktik in heterogenen Lerngruppen (in Stellenteilung)

Schulerfolg bei Mehrsprachigkeit. Die 6-jährige Blerta sitzt vor eine Reihe von Bildkarten. Ihre Aufgabe: Sie soll der Logopädin genau benennen, was darauf zu sehen ist. Der Wortschatz-Test ist eine echte Herausforderung für das Mädchen im zweiten Kindergartenjahr. Ihre Erstsprache ist Albanisch. Das ist auch die Sprache, die zuhause gesprochen wird. Deutsch lernt sie erst seit dem Besuch des Kindergartens systematisch. Doch für den Schulerfolg sind die Sprachfertigkeiten von Blerta entscheidend. «Bildungsgerechtigkeit für mehrsprachige Kinder ist in der Heilpädagogik ein zentrales Anliegen», sagt die HfH-Institutsleiterin Karo Sammann. Was das genau bedeutet, erläutert Karin Zumbrunnen: «Das heisst, nicht, dass ein Kind wie Blerta später unbedingt studieren muss», so die HfH-Professorin, die zusammen mit ihrer Kollegin Britta Massie diese Tagung leitet. «Aber man muss in der Schule die Grundlage dafür schaffen, dass ein künftiges Studium möglich wäre.»

Potenzial beim Zweitspracherwerb. Doch Kinder wie Blerta werden beim Zweitspracherwerb von ihrem Umfeld oft wenig unterstützt. In herkömmlichen Sprachstandtests schneiden sie deshalb häufig schlecht ab. Unklar ist jedoch, ob dies an der fehlenden Förderung oder am mangelnden Potenzial liegt. «Bei standardisierten Tests kann nicht gesagt werden, warum ein Kind nicht so gut abschneidet», sagt Christoph Till von der PHBern. Hier setzt das Dynamic Assessment an. Während bei standardisierten Tests der aktuelle Leistungsstand ohne Unterstützung erfasst wird, ist bei der adaptiven Sprachdiagnostik «jede Form der Hilfe erlaubt», wie es die Logopädin Hanna Ehlert beschreibt. «Wir wollen nicht das Sprachwissen eines Kindes wie Blerta überprüfen, sondern dessen Sprachlernfähigkeit», sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Sonderpädagogik der Universität Hannover. Wie man sich den Einsatz der adaptiven Sprachdiagnostik genau vorstellen kann und welche Knackpunkte es dabei gibt, erläutern Christoph Till und Hanna Ehlert im Gespräch mit Steff Aellig von der HfH-Wissenschaftskommunikation. Die Gespräche wurden via Zoom geführt und zusammengeschnitten.

Hanna Ehlert, Dr. (im Bild) und Christoph Till, Dr. im Gespräch mit Steff Aellig.

Ungeschliffener Diamant. Mit dem Dynamic Assessment bekommt man nicht nur eine Einschätzung über das Potenzial des Kindes, sondern gleich auch wertvolle Informationen zur Förderung. «Damit kann man die Lücke zwischen Diagnostik und Intervention schliessen», so Ehlert. Das ist wichtig, denn Kinder mit Deutsch als Zweitsprache stehen laut Christoph Till vor einer doppelten Herausforderung: Deutsch ist für sie nicht nur Alltagssprache auf dem Spielplatz oder in der Migros, sondern auch Bildungssprache in den Unterrichtsfächern. Hier sind schwierige Wörter häufig Stolpersteine, wie Christoph Till anhand der Redewendung «Ein Bad in der Sonne nehmen» in einem Lehrmittel-Text verdeutlicht: «Wenn die Lehrperson das nicht gut erklärt, kann das mehrsprachige Kind die Aufgabe nicht lösen, obwohl es unter Umständen die intellektuellen Kapazitäten dafür hätte.» Doch das ist nur ein kleines Beispiel.

Für den Bereichsleiter Fachwissenschaften am Institut für Heilpädagogik der PHBern braucht es in der Schule eine adaptive Sprachförderung im grossen Stil: Der Unterricht soll in allen Facetten an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kinder angepasst werden, von der Unterrichtsgestaltung bis zu den Lehrmitteln. Die Grundlagen dafür sind da, wie die Tagung gezeigt hat. Aber es gibt noch viel Luft nach oben. «Die adaptive Sprachförderung ist ein noch weitgehend ungeschliffener Diamant, den es zu bearbeiten gilt», so das Fazit der HfH-Professorin Karin Zumbrunnen.

Die halbtägige Online-Tagung «Adaptive Sprachförderung bei Mehrsprachigkeit» fand am 15. Juni 2024 statt. Sie war ein Anlass des Instituts für Sprache und Kommunikation und wurde von Britta Massie, Prof. Dr. und Karin Zumbrunnen, Prof. geleitet.

Autoren: Steff Aellig, Dr. und Dominik Gyseler Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation, Juni 2024