Befähigungsvision – Verwirklichungschancen und Möglichkeitsräume eröffnen
Reportage
Der Unterricht für Kinder mit komplexen Behinderungen muss so gestaltet werden, dass sie lernen können. Entscheidend ist die Frage: Wozu sollen sie befähigt werden?
Nils ist fünfjährig und besucht seit einem Jahr die Basisstufe einer HPS. Er hat gerne Leute um sich und mag Gespräche. Interessiert sich für das Thema Essen. Probiert gerne aus, experimentiert. Hat Mühe, einfache Sachverhalte zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, informiert sich anhand von Fotos und Piktogrammen. Und er braucht tatkräftige Unterstützung, um alltägliche Handlungen strukturiert durchführen zu können. Kinder wie Nils laufen Gefahr, durch die Maschen des Lehrplans 21 zu fallen. Der Grund: Sie würden voraussichtlich die für den Zyklus 1 definierten Kompetenzstufen nicht erreichen. Um auch diesen Kindern ihren gesetzlichen Anspruch auf Bildung gewährleisten zu können, hat Ariane Bühler, Senior Lecturer an der HfH, zusammen mit Judith Hollenweger von der PHZH eine Anwendung entworfen, wie der Lehrplan 21 auch für Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen zugänglicher wird. Die Grundidee besteht darin, auf die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu fokussieren. Was damit genau gemeint ist, erläutert Ariane Bühler anhand von drei leitenden Fragen.
Wozu-Frage: «Das ist die wichtigste Frage. Wozu soll Nils in Lernsituationen befähigt werden, um später ein möglichst gutes Leben führen zu können? Die Basis bilden natürlich die Interessen und Potenziale von Nils. Ausgehend von den Befähigungsbereichen wird nun eine Befähigungsvision entwickelt – eine, die das zukünftige Selbst im Blick hat. Diese Befähigungsvision gibt der Förderung im Alltag eine neue, an der Zukunft orientierte Ausrichtung und sichert die Erfüllung des Bildungsauftrages: Kinder wie Nils sollen dabei unterstützt werden, ihre Identität zu entwickeln, ihre Potenziale zu erkunden und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Konkret geht es dann etwa darum, Verwirklichungschancen in Bezug auf den Befähigungsbereich ‹Dranbleiben und bewältigen› zu ermöglichen, damit Nils Problemstellungen im Alltag erfolgreich und selbständig bewältigen können wird. Dies führt auch dazu, dass sich Nils als selbstwirksam und Urheber erfahren kann. Dazu muss man eine für Nils und sein Lernen günstige Lernsituation schaffen, in der er eine entsprechende Aufgabe bewältigen muss – etwa eine Schoggicrème herzustellen.»
Was-Frage: «Um eine langfristige Befähigungsvision zu verwirklichen, braucht es mittelfristige Ziele. Das ist die Ebene der Kompetenzen, hier wird die Anbindung an den Lehrplan 21 hergestellt. Um das Beispiel der Schoggicrème weiterzuführen: Nils kann Probleme wahrnehmen, die sich ihm beim Handeln stellen und kann sie mit Anleitung selbstständig lösen, anstatt um Hilfe zu fragen. Oder: Nils kann sein Repertoire an alltäglichen Handlungsabläufen erweitern und dabei Werkzeuge sowie Hilfsmittel adäquat einsetzen.»
Wie-Frage: «Die dritte Frage lautet, wie diese Lernsituation konkret gestaltet werden kann: Welche Hilfsmittel und Umweltanpassungen sind nötig, damit Nils die Aufgabe, die ihm gestellt wird, selbstständig lösen und die der Vision entsprechenden Erfahrungen machen kann? Nils benötigt sicher mal einen Ablaufplan, an dem er sich orientieren kann. Braucht er Hilfe, bekommt er zunächst keine – man muss ihm etwas zumuten. Das ist wichtig, so lernt er auch, sich angemessen auszudrücken. Er soll schliesslich befähigt werden, an etwas dranzubleiben und es zu bewältigen.»
Die Haltung ist entscheidend. Einer, der Fachleute auf diesem Weg unterstützt und begleitet, ist Chris Piller. «Es ist spannend und lehrreich, mit den Lehrpersonen zusammen solche Visionen zu finden, zu begründen und Möglichkeiten zu finden, sie praktisch umzusetzen», sagt der HfH-Dozent. Gerade wenn jemand vorher noch nicht so gearbeitet habe. «Die Fachleute müssen zum Teil wirklich umdenken», betont er. «Es heisst ja immer: Man muss dort ansetzen, wo das Kind steht», erklärt er. Und dieser Entwicklungsstand sei auch nach wie vor eine wichtige Bezugsgrösse. «Aber wenn man jetzt nur die Zone der nächsten Entwicklung im Blick hat, ist das zu kurzfristig gedacht.»
Andere Orientierung. Er macht das Beispiel eines 15-Jährigen, der Verhaltensweisen, Denkmuster und Lösungsstrategien zeigt, welche einem Referenzalter von etwa sieben Jahren entsprechen. Würde man sich als Fachperson nun bei der Planung des Mathe-Unterrichts nur an diesem Referenzalter orientieren, müsste der Schüler immer noch den 10er-Übergang üben – als pubertierender Jugendlicher. Das ist wenig sinnvoll, obwohl es ja dem nächsten Entwicklungsschritt entspricht. Heisst? «Der Blick auf einen Befähigungsbereich gibt eine andere Orientierung», sagt Chris Piller. «Wozu soll es für diesen Jugendlichen (noch) wichtig sein, am 10er Übergang zu üben? Für ihn geht es jetzt vielmehr darum, sich in unserer modernen Welt mit ihren vielen Zeichen, Symbolen, Ziffern, Buchstaben und Wörtern zurechtzufinden». Das ist der Befähigungsbereich «erwerben und nutzen». Konkret: Der Jugendliche wird in die Lage versetzt, elektronische Geräte wie das iPhone zu bedienen. In diesem, altersgemässen Kontext lernt er, Ziffern und Buchstaben als Orientierungszeichen zu benutzen.
Neuer CAS zum Thema Bildungsplanung. Ziel ist es immer, die Unterrichtssituation so zu gestalten, dass das Kind lernen kann. «Die Frage ist: Was kann ich tun, damit ich ein förderlicher Umweltfaktor sein kann?», spinnt Chris Piller den Gedanken weiter. Einiges, so die kurze Antwort: Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und ihrer Gesamtsituation einschätzen können, die Haltung der Befähigung verinnerlicht haben, in der Lage sein, auf dieser Basis eine befähigungsorientierte Förderplanung erstellen zu können. Dieses Handwerk können Fachpersonen nun im Rahmen des CAS «Bildungsplanung bei komplexer Behinderung», den Chris Piller zusammen mit Romana Snozzi leitet, praxisorientiert erlernen. Weitere Informationen und Anmeldung
Links
- Anwendung des Lehrplans 21 für Schülerinnen und Schüler mit komplexen Behinderungen in Sonder- und Regelschulen
Judith Hollenweger, Ariane Bühler
- CAS Bildungsplanung bei komplexer Behinderung