Das Wissen über Verhaltensauffälligkeiten muss besser in die Praxis

Tagungsrückblick

Sozio-emotionale Probleme von Kindern und Jugendlichen sind mittlerweile gut erforscht. Doch die Befunde finden den Weg ins Klassenzimmer kaum. Eine mögliche Herausforderung ist die gemeinsame Sprache. Die ESE-Konferenz in Zürich nahm sich diesem Thema an.

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Dennis Christian Hövel Titel Prof. Dr.

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Leiter Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung / Professor

Verhaltensauffälligkeiten belasten. Es ist hinlänglich bekannt: Schüler:innen mit Verhaltensauffälligkeiten haben es grundsätzlich schwieriger. Sie erbringen tiefere Leistungen und haben schlechtere Noten. Sie sind sozial weniger akzeptiert. Und sie haben ein höheres Risiko für Sucht und Delinquenz. Lässt sich daran etwas ändern? Das war eine der Fragen, die im Rahmen der 14. Konferenz der Dozierenden im Förderschwerpunkt «Emotionale und Soziale Entwicklung (ESE)», die in diesem Jahr an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich ausgetragen wurde, diskutiert wurde. Markus Neuenschwander, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist überzeugt: «Verhaltensprobleme entstehen nicht grundlos, sondern haben Ursachen: belastete Familienkonstellation, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie etwa Impulsivität, aber auch Faktoren im Klassenzimmer wie die Klassenführung oder die Einstellung der Lehrperson gegenüber dem auffälligen Kind.»

Interventionsprogramm auf drei Ebenen. Neuenschwander und sein Forschungsteam setzten den Hebel im Klassenzimmer an. Mit dem Projekt «FOSSA» wollten sie herausfinden, ob sich die Selbstregulation von verhaltensauffälligen Schüler:innen durch gezielte Interventionen verbessern lässt. Dazu wurden rund hundert Kindergarten- und Unterstufenkinder mit impulsivem Verhalten ausgewählt. Ihnen wurden Tipps und Tricks zur besseren Impulskontrolle vermittelt. Die Lehrpersonen erhielten eine gezielte Weiterbildung und ein individuelles Coaching im Umgang und in der Bewertung von problematischem Verhalten. Und darüber hinaus gingen trainierte Sozialarbeiter:innen achtmal zu den Familien dieser Kinder, um mit den Eltern am Erziehungsstil zu arbeiten.

Gute Effekte, aber schwieriger Transfer. Die Ergebnisse lassen sich sehen: Die trainierten Kinder haben eine deutlich höhere Aufgabenorientierung und einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen als die Kontrollgruppe ohne spezifische Unterstützung. Die Eltern wurden verständnisvoller und unterstützender. Und die Lehrpersonen konnten ihre Klassenführung optimieren und die Beziehung zu den als problematisch wahrgenommenen Kindern verbessern. Das Hauptproblem sieht Studienleiter Markus Neuenschwander nun aber darin, die ermutigenden Befunde aus dem Forschungsprojekt dauerhaft in die Schulpraxis übertragen zu können. «Wir haben einen grossen Graben zwischen dem, was wir mittlerweile wissen, und dem, was die Praxis umsetzt», meint er. Im nachfolgenden Video-Interview erläutert Markus Neuenschwander mögliche Massnahmen in der Praxis, und Tagungsleiter Dennis Hövel betont, wie wichtig eine «gemeinsame Sprache» ist.

Video-Interview mit Markus Neuenschwander und Dennis Hövel an der 14. ESE-Konferenz an der HfH

Unterschiedliche Problemfelder an Schulen. Reto Luder und André Kunz von der Pädagogischen Hochschule Zürich wissen um dieses Transferproblem von der Forschung in die Praxis. Im Rahmen ihres Projekts «Challenge» haben sie Lehrpersonen an rund zwanzig Schulen gefragt, wo der Schuh am meisten drückt. «Bei jüngeren Kindern sind es vor allem Auffälligkeiten in der Selbststeuerung: impulsives Verhalten sowie Konzentration auf schulische Aufgaben», fasst es André Kunz zusammen. Bei Jugendlichen an der Sekundarstufe seien es mehr motivationale Themen – insbesondere im Zusammenhang mit dem Übergang in den Beruf. «Wir stellen fest, dass dieser ‹Schulfrust› aber oft auch mit stofflicher Überforderung zusammenhängt.»

Wissen ist da, aber noch wenig vernetzt. Diese Bedarfserhebung sei zentral, ist Reto Luder überzeugt. «Von den bekannten und evaluierten Programmen, die man bei Verhaltensauffälligkeiten einsetzen kann, gilt eben nicht die ‹One-fits-all-Formel›. Man muss das gut auf die Situation des jeweiligen Schulteams abstimmen», so Luder. Auch in der Umsetzung von Massnahmen setzt das «Challenge»-Projekt nicht auf punktuelle Weiterbildungsanlässe, sondern auf eine längerfristige Begleitung. Schulentwicklung, heisst hier das Stichwort: «Ein einzelner Input bringt meistens nicht viel», sagt André Kunz. «Die Schule muss in einem kontinuierlichen Prozess dahin begleitet werden, die Verantwortung für geeignete Massnahmen selber zu übernehmen.» Und das geht nur mit Vernetzung innerhalb des Teams. Dabei merke ein Schulteam dann oft, dass insgesamt schon ganz viel Kompetenz bei den Leuten sei. «Wirklich tragfähige und nachhaltige Lösungen entstehen nur in multiprofessionellen Teams», ist Reto Luder überzeugt.

Das folgende Video gibt einen Stimmungseinblick in das vielfältige Tagungsgeschehen.

Impressionen der 14. ESE-Konferenz, die vom 29. Juni bis 1. Juli 2022 dauerte.

Autoren. Dr. Dominik Gyseler und Dr. Steff Aellig, HfH-Wissenschaftskommunikation