Kleinklassen lösen das Problem nicht!
Reportage
Schwierige Schüler:innen sind eine Belastung für Lehrperson und Klasse. Die Forderung, diese Kinder und Jugendlichen in Kleinklassen zu versetzen, ist auf den ersten Blick nachvollziehbar. Auf den zweiten Blick schafft diese Lösung aber neue Probleme. Experten sagen, wie es auch anders geht.
Alle paar Jahre und in unterschiedlichen Kantonen poppt sie jeweils auf: Die Forderung, separative Kleinklassen wieder einzuführen. Mal sind es Lehrpersonen, dann wieder Exponenten aus der Politik, welche auf die Überlastung des Schulsystems durch «schwierige Schüler:innen» hinweisen – und Kleinklassen als beste Lösung proklamieren. Andrea Lanfranchi, Professor und Institutsleiter an der HfH, ist überzeugt: «Kinder aus belasteten Familien bringen die Schule an ihre Grenzen, aber Kleinklassen bringen nur vordergründig eine Entlastung.»
Hoher Aufwand für Separation. Der ehemalige Schulpsychologe erinnert sich noch gut an die Zeit, als er im Auftrag von Schulgemeinden Kinder in die verschiedenen Klein- und Sonderklassen «sortieren» musste. Aus seiner Sicht handelt man sich damit nur neue Probleme ein: «Der diagnostische Aufwand für die Zuweisung und Überprüfung ist enorm, Eltern für diese Lösung zu gewinnen sehr schwierig, und geeignete Lehrpersonen zu finden für diese Aufgabe fast unmöglich», so Lanfranchi. Deshalb ist für ihn klar: «Ich will nicht mehr zurück!» Stattdessen müssen die Regelschulen gestärkt und die Eltern besser eingebunden werden. Was dies heisst, führt Andrea Lanfranchi im nachfolgenden Video-Interview aus.
Informationen zum Video. Das Interview wird geführt von Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH. Der Gesprächsgast ist Prof. Dr. Andrea Lanfranchi, Institutsleitung HfH Zürich.
Besseres Leben nach integrativer Beschulung. Es ist ein nachvollziehbarer Reflex, «stressende» Schüler:innen erstmal loswerden zu wollen – zum Beispiel mit der Kleinklassen-Lösung. Doch für das spätere Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen hat diese Separation deutlich negative Folgen, das konnte empirisch klar belegt werden. So hat das Forscherteam um Michael Eckhart, Professor an der PHBern, die Bildungsverläufe von 450 jungen Erwachsenen aus 20 Kantonen von der Grundschule bis ins junge Erwachsenenalter analysiert. Die Ergebnisse dieser Längsschnittstudie sind eindrücklich: Schulische Inklusion bringt mehr Berufserfolg, höhere soziale Akzeptanz und damit mehr Lebenszufriedenheit.
Verhaltenskompetenz braucht systematischen Aufbau. Das ist für Dennis Hövel, Institutsleiter und Professor an der HfH, keine Überraschung. Er fasst die Befunde zahlreicher Studien so zusammen: «Ist das Ziel eine Teilhabe an unserer Gesellschaft, so ist der Kontakt mit nichtbelasteten Gleichaltrigen während der Schulzeit die stärkste treibende Kraft!» Doch der Weg der Integration bedeutet viel Arbeit – gerade bei Kindern mit störendem Verhalten. Hövel schlägt deshalb vor, dass der Aufbau von sozial-emotionalen Kompetenzen in einer Schulklasse ähnlich systematisch erfolgen müsste, wie das beim Lesen, Schreiben oder der Mathematik der Fall ist. «Schüler:innen mit auffälligem Verhalten lernen das nicht nebenbei – sonst könnten sie es ja schon», so Hövel.
Weniger Stress und Massnahmen dank «SEL». Auch hier sind die Forschungsergebnisse überzeugend: An Schulen, welche das «sozial-emotionale Lernen» (kurz: SEL) als Programm flächendeckend umsetzen, bräuchten belastete Kinder weniger sonderpädagogische Massnahmen. «Und Lehrpersonen erleben deutlich weniger Stress», meint Hövel. Was er mit «SEL» genau meint, und wie er sich die Arbeit mit schwer auffälligen Kindern vorstellt, erklärt Dennis Hövel im nachfolgenden Video-Interview.
Informationen zum Video. Das Interview wird geführt von Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH. Der Gesprächsgast ist Prof. Dr. Dennis Hövel, Institutsleitung HfH Zürich.
Autoren: Steff Aellig, Dr., und Dominik Gyseler, Dr., HfH Wissenschaftskommunikation